Kapitel 32

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Kapitel 32

UNTERDESSEN

«Mama!», rief Melissa auf Türkisch und versuchte ihren Bruder daran zu hindern, ins Innere zu treten. Niemand reagierte auf ihre Worte. Beide Elternteile saßen mit Melek, der gleichaltrigen Schwester Cems, im Wohnzimmer und unterhielten sich.

«Lass mich rein», knurrte er und drückte sich gegen die Tür, die sie versuchte mit aller Macht zu schließen.

Vehement schüttelte diese ihren Kopf. «Nur über meine Leiche!»

Langsam verlor er die Geduld. Cem presste sich stärker gegen die Tür. Sie verlor das Gleichgewicht, suchte den Halt an der Wand. Cem trat ins Innere und schloss die Tür, sodass die Personen im Wohnzimmer es nicht mitbekamen.

«Ich werde es ihnen sagen», rief sie aus und verschränkte die Arme vor der Brust.

«Du wirst niemandem etwas sagen», flüsterte er ihr zischend zu und presste sie gegen die raue Wand. Melissas Herz schlug wie wild in ihrem Brustkorb. Gleich würde er ausholen. Gleich würde der Schmerz in ihrem Körper aufflammen. Sie musste etwas dagegen unternehmen. Sie durfte ihren Bruder nicht gewinnen lassen. Cem musste zurückgepfiffen werden. Er musste erfahren, wie es sich anfühlte, schwach und machtlos zu sein.

«Habe ich dir nicht gesagt, dass du nie mehr hier auftauchen sollst!», brüllte ihr Vater und riss ihn von Melissa los. Diese war erleichtert, wandte ihren Kopf. Sie versuchte auszumachen, ob weitere Menschen anwesend waren. Doch dem war nicht so: nur Cem, sie und ihr Vater. Sonst keiner. Die anderen waren noch immer im Wohnzimmer.

«Das ist mir völlig egal», fuhr Cem ihn an und stemmte die Hände in die Seiten.

«Raus hier!»

Abfällig lachte ihr Bruder auf. «Was willst du tun, wenn ich nicht gehe?»

Sein Vater schwieg, gab ihm keine Antwort. Dies schien ihn zufrieden zu stimmen, denn Cem lächelte süffisant.

Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie erinnerte sich an den Abend, an dem Melek nicht kommen konnte. Scheinbar ging es ihr nicht gut. Aber Melissa hatte es herausgefunden: Die Wahrheit, die Cem ihren Eltern verheimlichte.

«Weißt du warum Melek nicht hier war?», rief sie dazwischen und legte ihrem Vater eine Hand auf den Arm. Dieser sah zu ihr herunter. Ein fragender Ausdruck lag in seinem Blick. «Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem du zu Cem gesagt hast, dass er nicht mehr dein Sohn sei und nie mehr herkommen solle?»

«Hmm», machte ihr Vater und nahm die Hand seiner Tochter von seinem Arm. «Was ist mit diesem Abend?»

«Wag es nicht!», zischte Cem und ging einen Schritt auf Melissa zu.

«Lass sie ausreden», fuhr der Vater dazwischen und hielt einen Arm vor, damit Cem nicht weitergehen konnte. Triumphierend lächelte sie, schob sich das Haar zurück und holte tief Luft.

«Melek war an jenem Tag nicht bei uns...»

«Halt! Die! Schnauze!», fauchte Cem und ballte die Hände zu Fäusten.

«Du hast Angst?», provozierte sie ihren Bruder. Dieser schüttelte den Kopf. Melissa wandte sich ihrem Vater zu. «Er hat sie geschlagen, sie bis aufs Äußerste verletzt.»

Der Schmerz kam so plötzlich, dass Melissa aufschrie. Dieser alarmierte die Frauen, die im Wohnzimmer saßen. Beide kamen herbeigeeilt und blieben wie angewurzelt stehen, als sie Cem erblickten. Meleks Gesichtszüge entglitten. Sie zitterte am ganzen Körper, die Lippen pressten sich zu einem schmalen, dünnen Strich. Die Mutter sah ihren Ehemann entgeistert an. In ihr spukte die Frage: Was will er hier?

Wenn aus Liebe Hass wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt