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Die Sonne blendet mich, deshalb halte ich mir instinktiv die Hand vor mein Gesicht. Langsam komme ich wieder zu mir. Ich lebe noch? Mühsam richte ich mich auf, bemerke dabei, dass das Gewitter verschwunden ist und nur der Boden noch wassergetränkt ist. Und ich. Mit eiligen Schritten gehe ich auf dem Pfad, eile nach Hause. Meine Mutter wird krank vor Sorge sein, wenn sie nicht schon die Polizei verständigt hat. Seit Aidan tot ist, hat sie panische Angst, mich oder Alex zu verlieren, was ich irgendwo verstehen kann. Etwas bedrückt und schuldbewusst, klingle ich an der Haustüre. Die Türe wird aufgerissen und mein Vater sieht mich an. Er wirkt erschrocken, doch ich weiß nicht über was. Dann schließt er mich in seine Arme, hält mich fest. Sein Schluchzen bewegt etwas in meinem Inneren. Tränen, die ich meiner Familie nie gezeigt habe, fließen über meine Wangen. Ihnen habe ich nie gezeigt, wie sehr ich leide, ich habe einfach nur nicht gelächelt, nicht geweint. "Es tut mir Leid", flüstere ich.

Im Wohnzimmer werde ich in die dicke Decke gewickelt, bekomme einen Tee von meinem Vater. Er verständigt telefonisch meine Mutter, die mit der Polizei auf der Suche nach mir ist. Nur wenige Minuten später kommt meine komplett aufgelöste Mutter ins Zimmer gestürzt und brüllt herum. Als sie mich erblickt, verstummt sie. Auch Alex, der in einem Hotel genächtigt hat, kommt zu einem Besuch vorbei. Er ist es auch, der mich in mein Bett bringt, während meine Eltern unten noch diskutieren. Wie ein großer Bruder deckt er mich zu, legt sich neben mich. "Ich bin für dich da, Ava", flüstert er, legt einen Arm um mich. Mir wird bewusst, dass er weiß, dass es etwas mit Aidan zu tun hat. Und mir wird auch bewusst, dass er immer für mich da gewesen ist, selbst wenn wir nicht wirklich eng gewesen sind. Stumm kuschle ich mich an ihn ran, wieder fließt eine kleine Träne meine Wange herab. Ich habe noch einen großen Bruder, rufe ich mir ins Gedächtnis, und er liebt mich auch. Und trotzdem verschwindet die große Leere in mir nicht. Er ist nicht Aidan.

***

Drei Tage lang, so lange verlasse ich mein Zimmer nicht. Mein Bad ist direkt nebenan, Essen bringt Alex mir, der sich durchgehend um mich kümmert. Irgendwie zeigt er mir jetzt noch viel mehr wie früher, wer er wirklich ist. Meine Mutter will mich dazu überreden, endlich wieder weiterzuleben. Sie hat nicht nur ihren Sohn verloren, schreit sie jeden Tag. Was sie nicht versteht ist, dass ich und Aidan mehr als nur Zwillinge gewesen sind. Er ist mein ganzes Leben gewesen und selbst nach zehn Jahren tut es noch genau so weh wie am ersten Tag. Es wird sich nie ändern. Während meine Mutter nur noch Zuhause ist und versucht, mir jetzt wieder ein Leben aufzudrängen, wirft sich mein Vater voll in die Arbeit. Ihn bekomme ich nur noch selten zu Gesicht, doch das bin ich gewohnt. Umso erleichterter bin ich, als Alex mir sagt, dass er für eine Weile hier bleibt und dass New York warten kann.

Und jetzt sitze ich ihm Wohnzimmer unten, kuschle mich an Alex und schaue auf den Fernseher. Die Nachrichten spielen wieder einmal verrückt, auf der ganzen Welt gibt es etwas zu berichten. Ein Bombenanschlag hier, ein Amoklauf da. Die Welt ist unsicher geworden, während ich im Selbstmitleid gebadet habe. Auf einmal fühle ich mich schuldig. Ich will hier weg, nein, ich muss hier weg. Ab jetzt werde ich etwas bewirken, andere Leben retten. "Ich komm' mit nach New York. Ich brauche einen Tapetenwechsel", flüstere ich. Alex Blick wandert überrascht zu mir, dann nickt er lächelnd und nimmt mich in die Arme

***

Heute dusche ich zum ersten Mal seit dem Blitzeinschlag. Ein komisches Gefühl breitet sich in mir aus, als ich meine Klamotten fallen lasse. Im Spiegel erkenne ich mich. Doch in meinem Gesicht zeigt sich pures Entsetzen. Erst vor kurzem habe ich Bilder im Internet gesehen, dass Menschen Narben erhalten von Einschlägen. Doch erst jetzt bemerke ich die Narbe, den Stromschlag, der sich von meiner Stirn bis zu meinem Bauchnabel zieht. An meinem Herz ist der Mittelpunkt. Kann ich überhaupt noch leben, wenn der Strom direkt durch mein Herz gegangen ist? Ich muss die Augen schließen, den Blick abwenden. In der Dusche stehe ich länger als sonst, rubble an meiner Haut. Warum hat mir niemand gesagt, dass man die Narbe sehr gut sieht? Der Rasierer fliegt mir aus der Hand, doch er kommt nicht am Boden an. Meine Hand hat ihn aufgefangen. Meine grüne Hand, wohlgemerkt. Panisch weiten sich meine Augen. Dort, wo sonst meine blasse Haut ist, sind dunkelgrüne Schuppen, mit einem gelblichen Schimmer. Ängstlich steige ich aus der Dusche, schaue in den Spiegel. Ich kann es nicht fassen. Statt meinen langweiligen braunen Augen starren mich rote Augen an. Es sind die roten Augen der Viper, die mir damals ihr Gift in die Augen gespritzt hat. Und dann schreie ich.

Chimäre || Avengers ffWhere stories live. Discover now