Das alte Buch

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Gülden schien die Sonne durch die großen, bunten Glasfenster der Bibliothek und ließ die Bücher, die ohnehin schon aufgrund ihres Alters und ihrer besonders verzierten Buchrücken höchst entzückend aussahen, in einem noch eleganterem Licht voller Magie erstrahlen.

Robert erschauerte jedesmal, wenn die Sonne am Nachmittag durch die Fenster des Obergeschosses hineinströmte. All die ganzen Bücher, seine Bücher, wurden dann erst so richtig in Szene gesetzt.

Langsam, geradezu ehrfurchtsvoll, schritt er durch die Reihen der Regale entlang und streifte jeden Buchrücken einmal kurz hauchzart. Fühlte sich das gut an!

Mittlerweile kannte er jedes Buch schon fast auswendig. Allein schon an der Farbe der Buchrücken erkannte er, ob jedes an seinem Platz stand. Robert schritt den äußeren Gang zu Ende und ging in den zweiten - den Mittelgang. Auch hier war jedes Buch - wie immer - an seinem Platz.

Robert stoppte und atmete tief ein. Er liebte den Geruch des alten Papiers! Am liebsten hätte er eines der Bücher herausgenommen, es aufgeschlagen und mit seinem Zinken einmal so richtig kräftig am Papier gerochen, jedoch: so etwas tat man als anständiger Bibliothekar nun mal nicht! Er grinste bei dem Gedanken in sich hinein und ging weiter.

Schließlich kam er in den letzten Gang, nahe der Tür. Hierher drang die Sonne nicht mehr so recht. Dennoch sahen auch alle Bücher regelrecht magisch aus. Er nahm auch hier die Bücher ab, wollte gerade zufrieden anhalten, als er etwas bemerkte. Ganz am Ende des letzten Regales stand auf der untersten Ebene ein Buch, das er bisher noch nie gesehen hatte.

Langsam schritt Robert an dieses Regal, bückte sich und nahm das Buch heraus. Es war ziemlich dick und schwer. Auffällig war sofort der sehr alte lederne Einband, der wohl noch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu stammen schien. Oder sogar älter...

Robert ging langsam und ehrfürchtig mit dem Buch in der Hand zu einem der großen Tische, die auf der anderen Seite des Raumes platziert waren. Sein Blick war dabei ununterbrochen auf das besondere, sehr alte Buch geheftet. Wieso hatte er es noch nie zuvor bemerkt? Wer hatte es dort abgestellt?

Behutsam legte er das gute Stück vor sich auf den Tisch und setzte sich hin. Er versuchte den Titel auf dem Einband zu entziffern. Doch der lederne Umschlag des Buches war so verblasst und mit Einritzungen übersät, das nichts zu erkennen war. Doch halt, was war das! Dort auf der unteren Hälfte der Vorderseite - war das nicht das Stadtwappen? Robert blinzelte, hob das Buch an sein Gesicht, schrägte es leicht an, damit das einfallende Sonnenlicht darauf fiel.

Doch so recht sicher sein konnte er nicht. Es half nichts - er musste hineinsehen. Er legte das Buch wieder vorsichtig ab und öffnete es langsam und bedächtig. Es knarzte, als Robert den geheimnisvollen Buchdeckel öffnete. Fast war es ihm, als knisterte es auch.
Er blätterte behutsam die leere erste Seite um. Schon prangte in verblasster Tinte der Titel auf: "Geschichte der Stadt Magdeburg - Vom Dreißigjährigen Krieg bis danach"

'Komischer Titel', dachte Robert. Was sollte das bedeuten "bis danach". Er konnte sich nicht erinnern, etwas ähnlich Flapsiges schon mal in einer anderen alten Chronik gelesen zu haben. Er schüttelte den Kopf und sah sich den Rest des Titels an. Sein Blick blieb beim Verfasser hängen: "Von Marcus Lapidius Anonymus", stand etwas tiefer auf der Seite - etwas kleiner geschrieben, aber ebenfalls in der gleichen geschwungenen Weise, wie beim Titel.

Unwillkürlich musste Robert schmunzeln. "Lapidius" bedeutete soviel wie "Herr Stein" und er selbst hieß auch Stein mit Nachnamen. Ein gewisser, anonymer Marcus Stein hat diese Chronik also mal verfasst. Und ein anderer Mann namens Stein hatte das Buch nun gefunden. Lächelnd schüttelte Robert den Kopf. Zudem mochte er von allen römischen Vornamen den Namen "Marcus" am Liebsten. Könnte er zurück in die Römerzeit, würde er sich "Marcus Lapidius Robertus" nennen. Kein Wunder also, dass der Name des Verfassers gewisse Assoziationen weckte.

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