Das Geheimnis der Geheimnisse

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Am Nachmittag war ich etwas überrascht, als Jasper mir erzählte er würde auch Spanisch haben. Ich beobachtete ihn während des Unterrichts über meinen Augenwinkel und sah, wie er alles mögliche an den Rand seines Heftes kritzelte, während unsere Lehrerin munter irgendwas auf Spanisch brabbelte. Doch er versank dabei nicht in einer Traumwelt, wozu ich gelegentlich neigte. ,,Mister Hale, wollen sie uns den angeschriebenen Satz vielleicht übersetzen?", fragte Mrs Desposito misstrauisch und zog eine Augenbraue in die Höhe. Und als wäre es der einfachste Satz auf Englisch übersetzte Jasper den spanischen angeschriebenen Satz: ,,Zwischen dem was existiert und dem, was nicht existiert, steht die Liebe." Ein wunderschöner Satz. ,,Und was könnte das bedeuten, Miss Swan?" Na toll. ,,Ich denke, dass bedeutet, dass die wirkliche Liebe existiert, aber das sie schwer zu finden ist, da sie an der Grenze zur Nicht-Existenz steht", versuchte ich mein Glück. ,,Schön zu sehen, dass sie beide doch aufpassen", meinte Desposito noch, bevor sie sich wieder der Tafel zuwandte. Ich rupfte schnell eine Ecke von einer Heftseite ab und schrieb drauf: Wo hast du so gut Spanisch gelernt? Den Zettel schob ich zu Jaspers Tischhälfte rüber und wenige Sekunden später kam er wieder zurück. In einer kleinen sauberen Handschrift stand auf der Rückseite: Hab eine Zeit in Mexiko bei einer anderen Familie gelebt. Ist viele Jahre her. Hätte ich da schon gewusst, wie viele Jahre...

Als ich nach dem Unterricht nach Hause kam, war dad schon wieder da. Das erkannte ich an dem Pistolengurt, der wie immer an der Garderobe hing. Früher hatte dad aus seiner Waffe immer die Patronen raus genommen, damit Bella und ich uns nicht aus Versehen oder so in den Fuß schießen würden. Mittlerweile hielt er mich allerdings für erwachsen genug, dass mir so etwas nicht passierte. ,,Hey dad", rief ich einfach mal richtung Küche, ,,Schon zu Hause?" ,,Ja", kam es zurück, ,,Ich konnte heute mal früher Schluss machen. Billy hat doch heute Geburtstag und wir sind zum Essen bei Blacks eingeladen. Jake freut sich bestimmt, wenn du mit kommst." ,,Ne, lass mal", meinte ich, als ich gerade die Küche betrat, ,,Ich hab noch einen Berg an Hausaufgaben zu erledigen und so, aber richte Billy herzlichen Glückwunsch von mir aus." ,,Hey, ich bleib wahrscheinlich über Nacht da, also...", setzte dad an. Doch ich unterbrach ihn und sagte: ,,Dad, ich komm schon klar." ,,Ich meinte nur, ich werd ein Taxi nehmen und dir das Auto hier lassen, falls du nochmal einkaufen fahren willst oder so. Ich will nicht, dass du heute bei dem noch kommenden Gewitter mit deinem Motorrad draußen rum fährst." ,,Okay, danke dad", erwiderte ich darauf nur und fischte eine Schinken-Pizza aus dem Gefrierfach. 

Eine Pizza später war dad schon los und ich fragte mich, was ich tun könnte so ganz allein. Der Regen hatte aufgehört und ich glaubte irgendwie nicht daran, dass es noch gewittern könnte. Deshalb beschloss ich, zu meiner Lieblingsstelle in Forks zu fahren. Eine mit niedrigen Bäumen gesäumte kleine Lichtung, von der kaum jemand wusste. Es gab noch eine größere, aber ich bevorzugte die kleinere. Also schnappte ich mir den Autoschlüssel, mein Handy und den Haustürschlüssel und fuhr nur wenige Sekunden später in dads Streifenwagen los richtung Wald. Als ich gerade an dem Pfad zum Wald ankam, fing es doch wieder an, zu schütten und auch ein fernes Donnergrollen war zu hören. Das Gewitter würde bestimmt vorbei ziehen und der Regen machte mir nichts aus. Allerdings wurde der Regen irgendwann so dicht, dass die Scheibenwischer nicht mehr hinterher kamen und ich kaum noch sehen konnte, wo ich hinfuhr. Ich kam schließlich auf der großen Lichtung raus. Eine weiße Kugel, die an einen Baseball erinnerte zischte an mir vorbei und gleichzeitig ein verschwommener Fleck, der in etwa die Gestalt eines Menschen hatte. Vor schreck legte ich eine saubere Vollbremsung hin und wurde im Sitz ordentlich nach vorne geworfen, aber gepriesen seien die Anschnallgurte. Durch die Bäume wurde der Regen etwas abgehalten, wodurch ich immerhin wieder etwas durch die Windschutzscheibe sehen konnte. Und was ich sah, war sehr verwirrend: Ich sah die Cullens. Alice stand in der Mitte der Lichtung und stand wie zum Wurf bereit. Vor einer braunhaarigen Frau (wahrscheinlich Esme) kam ein verschwommener Mensch zum stehen. Und wurde zu Jasper. ,,Was läuft hier bitte?", stieß ich verwirrt aus. Und als hätten sie mich über den Donner hinweg gehört, richteten sich alle Blicke gleichzeitig in meine Richtung. Ich versuchte im Rückwärtsgang wieder auf den Waldweg zu fahren, doch der Boden war schon zu aufgeweicht. Dad würde mich töten. Ich wollte da wieder weg, weil mir die Situation Angst machte. Doch von einem Moment auf den anderen war diese Angst wieder verschwunden und eine unnatürliche Ruhe breitete sich in mir aus. Diese plötzliche Ruhe die ich verspürte, machte mir beinahe noch mehr Angst, als diese seltsame Situation, aber irgendwie hatte ich trotzdem nicht das Gefühl von Angst. Die Cullens standen wie zu einer Beratung im Kreis zusammen, als Emmet plötzlich neben dem Auto stand. Aber ich erschrack nicht. Die Ruhe blieb. ,,Ups", hörte ich Emmet dumpf sagen. Fluchend öffnete ich die Autotür und stieg aus. Dads Streifenwagen war von allen Seiten schön mit Schlamm voll gespritzt. Jap, er würde mich töten. ,,Was zur Hölle läuft hier eigentlich?", brüllte ich in die gespenstische Stille hinein. Die innere Ruhe war verschwunden und machte Entsetzen und Wut platz. ,,Eli, beruhige dich", bat Jasper mich in seinem sanften Tonfall und er stand plötzlich genau vor mir. ,,Nein, ich werde mich jetzt nicht beruhigen!", keifte ich aufgebracht und fuchtelte anklagend mit den Händen in der Luft rum, ,,Sag mir nicht, ich soll mich beruhigen! Ich weiß nicht, was ich hier gesehen hab, ich weiß nur, es war nicht normal! Und ich will einfach wissen, was verdammt nochmal hier los ist!" ,,Es ist schwer zu erklären", meinte der Typ mit den wasserstoffblonden Haaren, der auch plötzlich vor mir stand (musste dann Carlisle Cullen sein), ,,Aber ich verspreche dir, du musst keine Angst haben." ,,Komisch", gab ich etwas empört von mir und stemmte die Hände in die Hüften, ,,Immer wenn dir das jemand in einem Film sagt, dann bist du eine Minute später tot!" ,,So wird es nicht sein", versprach mir Carlisle. Seine Stimme war sanft und hatte eine relativ beruhigende Wirkung. ,,Ich bitte dich nur, mir zu zu hören." 

Tatsächlich hatte ich mich drauf eingelassen. Ich war unter Alice' Anweisungen zu ihrem Haus gefahren, wo die anderen schon länger zu warten schienen. Eine ganze Weile saß ich auf einem großen weißen Sofa im Wohnzimmer der Cullens und hörte mir an, was Carlisle und die anderen erzählten. Das war das große Geheimnis. Das war es, was die Cullens so besonders machte. Sie waren Vampire. Eigentlich hätte ich schreiend weg rennen müssen, aber meine Angst war verpufft. Mir war nur kalt und ich war unglaublich müde. Mein Gehirn müsste das alles erstmal verarbeiten. ,,Ich will mal kurz mit meiner Schwester telefonieren", verkündete ich, als die Erzählungen geendet hatten. Tatsächlich verließen sie auf einen Blick von Carlisle hin alle brav den Raum und mit leicht zitternden Fingern fischte ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wählte Bellas Nummer. ,,Hey Eli", meldete sie sich sofort zu Wort, ,,Alles klar bei dir? Wie war so dein erster Schultag?" ,,Einfach nur crazy", fing ich an, zu erzählen, ,,Neue Gesichter fallen bei uns tatsächlich auf, wie du in Arizona du Käse." Bella lachte. Ihr Lachen tat mir immer gut. ,,Aber was war denn jetzt so crazy?", fragte Bella nach. Ich entschied mich kurzerhand dazu, dass Geheimnis für mich zu behalten und antwortete: ,,Heute in der Mensa in der Schule gab es etwas, dass sich Tomatensuppe nannte, aber weder sah es aus, wie Tomatensuppe, noch hat es so geschmeckt. Es hat eher wie dads versuchte selbstgemachte Guacamole geschmeckt. Das war eher Knoblauchsuppe, mit einem Tropfen Tomatenaroma oder so." Mein Zwilling lachte herzlich und erzählte dann fröhlich: ,,Ich hatte heute Bratkartoffeln, die eigentlich mehr aus Speck als aus Kartoffeln bestanden und dazu eine sehr wässrige Bratensauce. Ich würde sagen, der heutige Punkt für crazy geht an dich Zwilling." Ich konnte ein kichern nicht unterdrücken und meinte noch bevor ich auflegte: ,,Hey, grüß mom und Phil von mir. Hab dich lieb." ,,Ich dich auch", kam es noch zurück, dann legten wir wie immer gleichzeitig auf. Das erste mal in meinem Leben verheimlichte ich meinem Zwilling etwas. Ich hatte Bella wirklich noch nie etwas verheimlicht, ich hatte ihr immer alles erzählen können. Doch dieses Geheimnis konnte ich ihr nicht erzählen. Ich hatte es irgendwie im Gefühl, dass das nicht gut enden würde...

Elisa Swan AliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt