Zehn

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Die folgenden Tage sind ein ziemlich unangenehmes Spiel aus guten und weniger guten Intervallen. Mal geht es mir sehr schlecht, mal könnte ich Bäume ausreißen. Das Ganze wird durch gerade für mein Umfeld nicht so sahnige Stimmungsschwankungen unterstrichen. Ich schreie Casper an, weil mein Kopf wehtut und nicht, weil ich sauer auf ihn bin. Fünf Sekunden später tut mir schon wieder leid, was ich gemacht habe, doch er drückt nur seine Lippen gegen meinen Handrücken und lächelt mich an. Vielleicht, weil er einiges wiedergutzumachen hat, vielleicht. Immerhin ist er der Grund für das alles hier. Und das weiß er. Auch wenn ich mittlerweile nicht mehr abstreiten kann, dass ich Gefühle für ihn entwickele, kann ich es nicht schönreden. Der Tag, an dem ich entlassen werde, ist sonnig und warm und in Sibirien sind wir eindeutig nicht. Caspers Auto steht in der Tiefgarage des Krankenhauses und auf Krücken brauche ich eine Ewigkeit. Er hilft mir auf den Beifahrersitz und steigt dann selbst ein. Mein Bein steckt in der riesigen Schiene und Casper hat die Schmerzmittel, die ich noch bekommen habe, in der Tasche verstaut.

„Wo sind wir eigentlich?“, frage ich, als er den Motor startet und anfährt.

„Im Ausland. Wir fahren jetzt nach Hause.“ Nach Hause. Dann werde ich meine Familie wohl nie wiedersehen.

Ich muss eingeschlafen sein, erst als eine Tür zufällt, wache ich wieder auf. Ich liege in Caspers Armen und er trägt mich in das mir bekannte Wohnzimmer. Mein Kopf tut weh, die Naht an meiner Seite brennt und ich will sterben, jetzt. Mein Atem geht unregelmäßig, das ist nicht normal. Mein Brustkorb scheint sich zu verengen und ich bin unendlich dankbar, als ich endlich eine Tablette bekomme. Und dann, dann bin ich weg.

Es ist nicht echt. Es ist eine Täuschung, alles ist eine Täuschung. Das Denken, wirklich Casper nahe sein zu wollen, die Gefühle, die nicht da sein können. Ich meine, er hat mich fast umgebracht und zugelassen, dass ich vergewaltigt werde. Das ist im Grunde genommen genauso verwerflich wie das, was Eric selbst getan hat. Keine Ahnung, was mit mir los ist und warum ich mich bei ihm wohlfühle, aber es ist falsch. Minutenlang starre ich an die Decke und bekomme gar nicht richtig mit, dass ich wach bin. Erst als mir bewusst wird, dass ich blinzele und nachdenke, bin ich wieder klar bei mir. Die Schmerzen sind weniger geworden. Jetzt ist es eher ein hintergründiges Rauschen. Solange es mir so verhältnismäßig gut geht, sollte ich etwas tun. Ich muss. Bevor ich mich noch tatsächlich und wirklich in Casper verliebe, was ich im Moment absolut von mir weise, muss ich hier weg. Vorsichtig setze ich mich auf. Couch, Tisch, Zettel. Da liegt er. In einer überraschenderweise annehmbaren Handschrift, ein paar Zeilen, wo so viel mehr gesagt werden müsste. Worte, die niemals gesprochen worden.

Bin nicht lange fort

Wahrscheinlich schon wieder da, wenn du aufwachst

Na hoffentlich nicht. Aufmerksam lausche ich und achte auf jedes kleine Geräusch. Keine Schritte, keine Stimme, nichts. Ich bin so gut wie frei, endlich frei. Es fühlt sich falsch an so zu denken, aber mein Verstand weiß, dass es richtig ist. Casper, oder viel mehr meine Haltung zu ihm – das alles ist eine Illusion. Es muss einfach so sein. Entschlossen schlage ich die über mich gebettete Decke zur Seite und kämpfe mich hoch. Ganz vertrauen, tut Casper mir wohl doch noch nicht, die Krücken kann ich nirgendwo sehen. Also muss ich ohne hier raus. Jedoch sollte ich vorher irgendwie jemanden kontaktieren. Mein geschientes Bein hinter mir her schleppend, humpele ich zur Kücheninsel und sehe mich um. Nirgendwo ein Telefon, nicht hier. Vielleicht hat er damit gerechnet. Mir läuft die Zeit davon und ich bin zu schwach ihr zu folgen. Mir ist schwindelig. Bleib da, Caja, bleib um Gotteswillen da. Nicht umkippen, nicht jetzt. Scheiße, Caja. Und dann passiert etwas, was mir vielleicht das Leben rettet. Eine Melodie erklingt und erst verstehe ich gar nicht, kann es nicht realisieren. Das Telefon, es klingelt. Mich konzentrierend versuche ich die Töne zu orten. Meine Ohren führen mich Richtung Tür, wo eine kleine Garderobe eingerichtet wurde. Auf einem winzigen, runden Tisch liegt es und bei jedem Schritt kreischen meine Knochen, als würden sie brennen. Feuer, tatsächlich. Doch ich schaffe es und mit bebenden Fingern, zittern kann man das nicht mehr nennen, nehme ich ab.

StockholmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt