eins

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Ich spielte mich zuerst mit einer Tonleiter ein und begann dann mit einem langsamen Stück von Mendelssohn. Zuerst waren meine Bewegungen hölzern und meine Finger schwer, doch dann wurden sie fließend und ließen sich von der Musik tragen. Ich strich liebevoll über die Tasten. Hier, in diesen großen, leeren Haus klangen die Töne irgendwie einsam und verloren. Nachdenklich klappte ich den Flügel zu und ging zum Fenster. Von hier aus konnte ich die wunderschönen Berge Kolumbiens sehen, die mit Nebelwäldern bewuchert waren. Direkt unter mir aber sah ich nur bewässerte Parkanlagen und die vergoldeten Zäune, die mich hier gefangen hielten. Gustavo, der Parkwächter, sah mich und winkte freundlich hoch. Ich winkte zurück, zog dann aber die Gardinen zu. Dieses Gefühl, vom richtigen Leben irgendwie abgeschnitten zu sein und meine Zeit hier in meiner kleinen bewachten Wohnanlage zu verschwenden, hinterließ jedes Mal aufs Neue einen stechenden Schmerz in der Brust. Manchmal wünschte ich mir, meine Mutter würde noch leben und ich wäre bei ihrer Familie in den Slums aufgewachsen, mit Leuten um mich, die mich lieben und die lachen und tanzen und auch mal streiten, hauptsache nicht im sterilen Luxus-Gefängnis meines Vaters, des ach so tollen und sozialen Politikers.

Ich wurde aus meinen Tagträumen gerissen, als ich Geräusche an der Tür hörte. Schnell lief ich die Marmortreppe herunter, um einer völlig durchnässten Jimena die Tür zu öffnen. Sie kramte in ihrer Tasche, blickte dann aber auf und strahlte, als sie mich sah.

"Josefine! Ein Glück! Ich glaube, ich hab meinen Schlüssel vergessen!"

"Komm schnell rein. Bist du in einen Regenschauer gekommen? "

"Es regnet ohne Pause, schrecklich! Regenzeit, weißt ja..."

Ich nickte. Ich liebte den Regen, doch ich kam kaum raus, und wenn doch, dann meistens mit einem 'Babysitter' hinter mir, der mir den Schirm hielt. Meistens war das Micheal, ein arroganter Muskelprotz, den ich hasste, obwohl er ja 'nur zu meiner Sicherheit' da war. Ich konnte es nicht mehr hören!

Ich hasste auch meinen Vater. Er war vor 19 Jahren, zwei Jahre vor meiner Geburt, als Deutscher nach Kolumbien gekommen und hatte sich dann bei einem Besuch in den Slums in meine Mutter verliebt. Als die dann bei meiner Geburt starb, holte er Jimena zu uns, die sich um mich und den Haushalt kümmerte, während er sich wieder der Politik zuwandte und auch irgendwie erfolgreich wurde, was definitiv nicht von symphatischen Charakterzügen abzuleiten war. Wahrscheinlich beschmierte er sogar alle möglichen wichtigen Leute, um Karriere zu machen, aber ganz ehrlich, das war mir total egal, solange er mich da nicht mit rein zog..

Jimena aber war für mich wie eine Mutter geworden und obwohl auch sie meinen Vater nicht mochte, arbeitete sie immer noch bei uns. Zweimal hatte sie mich sogar heimlich zu Feiern von ihrer Familie mitgenommen, damit ich mal aus meinem Leben in handgefertigten Himmelbetten und begehbaren Kleiderschränken herauskam. Ich wusste jedoch, dass die Leute im Slum mich verachteten, ebenso wie meinen Vater. Ich war das reiche, verwöhnte Mädchen, die ein Abenteuer erleben wollte und den ganzen Dreck und die Armut irgendwie spannend fand. Und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass es die Wahrheit war und dass sich das auch niemals ändern würde. Und da war es wieder, das Stechen in der Brust. Frustschokolade ahoi.

hummingbirdsWhere stories live. Discover now