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Die Tage verliefen ineinander. April, Mai, Juni. Ich verbrachte meine Zeit mit Jimena, wir saßen oft einfach nur zusammen und redeten. Mir war nie bewusst gewesen, wie sehr ich sie in mein Herz geschlossen hatte, aber ich liebte sie wie die Mutter, die ich nie gehabt hatte. Schon ihre Anwesenheit sorgte für Ruhe in meinem Kopf und ließ mich sicher fühlen.
Meine Noten in der Schule waren gut, in einem halben Jahr würde ich meinen Abschluss haben. Ich fragte mich nie, was dann kommen würde. Die meisten hatten große Pläne, studieren, reisen, heiraten, Kinder kriegen. Ich beschränkte mich auf den Wunsch, irgendwann wieder glücklich zu sein. Ich hatte ein gutes Leben, aber etwas fehlte. Wenn ich morgens aufstand, Tag für Tag, wusste ich nicht, wofür. Es war, als hätte der Sinn meines Lebens sich verabschiedet, als ich meine besten Freunde verlor.

Mit schnellen Schritten lief ich den kurzen Weg vom Kiosk nach Hause, als ich jemanden hinter mir bemerkte. Angst packte mich und meine Atmung beschleunigte sich. Ich schaffte es, mir einzureden, das wäre bestimmt nur ein ganz normaler Mensch wie ich, der spätabends noch Kippen beim Kiosk holen wollte, und zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. Ich nestelte an dem Reißverschluss meiner Jackentasche, um meinen Schlüssel schon einmal herauszufummeln. Meine Hände waren starr und blau vor Kälte, es war einer der kältesten Tage des Jahres gewesen. Das eiserne Tor des Condominios kam bereits in Sicht. In dem Häuschen brannte Licht, bestimmt hatte Enano wieder Schicht, der kleine Venezulaner. Ich ging schneller, den Blick des Mannes in meinem Nacken spürend.
"Josefine", hörte ich plötzlich hinter mir. Schreck fuhr durch meine Glieder, machte mich unfähig zu handeln. Der Mann überholte mich und versperrte mir den Weg. Seine dunklen Augen funkelten im Laternenlicht. "Keinen Laut!", zischte er mir warnend ins Ohr. Seine tiefe, raue Stimme verursachte Gänsehaut, sodass sich auch meine Nackenhaare aufstellten. Wie erstarrt ließ ich zu, dass er mir den Schlüssel aus der Hand nahm. Erst als er mich hämisch angrinste, begann meine Gehirn wieder zu funktionieren.
Ich rammte ihm mein Knie zwischen die Beine und rannte auf das Tor zu. Hinter mir hörte ich ihn einen Fluch ausstoßen, als er sich aufrappelte und begann, mir hinterherzulaufen. Meine Halsschlagader pochte wie verrückt und ich spürte das Adrenalin durch meine Adern rauschen.
Auf einmal verdrehte sich beim Auftreten mein Knie, ich schrie auf und fiel hart auf den Asphalt. Der Schmerz in meinem Bein raubte mir den Atem und ich japste nach Luft.
Das nächste, was ich spürte, war ein feuchtes Tuch auf meinem Gesicht und ein süßlicher Geruch.
Dann fiel ich in endlose Dunkelheit.

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