Nachdem ich Lance und Magda noch nach Hause begleitet hatte, war ich unter großem Protest der beiden die letzten Straßen alleine nach Hause gegangen. Ehrlich gesagt, war mir dabei schon etwas mulmig zumute gewesen, aber irgendwie hatte ich Lance endgültig beweisen wollen, dass ich kein Weichei war.

Ich hatte beschlossen, der ganzen Sache noch ein wenig auf den Grund zu gehen. Irgendwie konnte ich mich mit Lance' Antwort nicht zufrieden geben. Worüber hatten die Palastwachen tatsächlich geredet? Warum waren sie hier? Vielleicht würde ich bei Marten auf mehr Informationen stoßen.

Ich streckte mich und schlüpfte dann eilig in ein paar Klamotten, da mir die Uhr sagte, dass es nur wenige Minuten vor zehn war und wenn Malcolm heute kommen würde, wollte ich nicht im Nachthemd erscheinen. Schnell wusch ich mir das Gesicht, richtete meine Haare ein wenig und lief dann die Treppe hinunter in die Küche. Bei jedem Schritt knarzte sie, aber ich hatte schon als kleines Kind die Angst vor dem Einsturz abgelegt - sie würde mich um viele Jahrhunderte überleben, da war ich mir sicher.

Tatsächlich wurde wenige Minuten später an der Tür geklopft, als ich gerade dabei war mir eine Scheibe Brot zu bestreichen. Ich schluckte eilig den Bissen herunter und öffnete die Haustür. Malcolm stand davor und lächelte mich mit dem üblichen verschmitzten Lächeln an.

„Hey Aprillis", sagte er und machte einen Schritt auf mich zu.

Beim Klang des Spitznamens, den Officer Newton aus dem Palast mir gegeben hatte, versteifte ich mich und konnte seine sanfte Umarmung nicht erwidern. Er schien es aber nicht zu merken, dass ich mich unwohl fühlte und sprach auf seine übliche unbefangene Weise weiter.

„W-wo warst du gestern?", brachte ich heraus.

„Hast du mich vermisst?"

Ich fasste mich wieder und verdrehte die Augen. „Du hast es erfasst, Sherlock."

Er lächelte. „Ich habe von Mister Tavis eine ordentliche Ansprache erhalten. Es ist ja nicht so, als hätte ich extra die Arbeit geschwänzt."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Was war es denn dann?"

„Dachtest du etwa, ich hätte das getan?", er klang nicht direkt verletzt, aber doch irgendwie überrascht.

Ich zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen, Malcolm? Ich kenne dich kaum." Es klang härter, als ich es eigentlich gemeint hatte, aber es erlangte die gewünschte Wirkung.

Malcolm sah mich betroffen an und räusperte sich. „So viel zu deinen guten Menschenkenntnissen, April", sagte er und zwang sich zu einem spielerischen Lächeln.

Ich grinste leicht. „Die sind wirklich gut!", verteidigte ich meine frühere Behauptung.

„Jedenfalls stimmten sie in meinem Fall nicht. Ich habe die Arbeit nicht zum Spaß sausen lassen."

„Sondern?", hakte ich nach.

Er zögerte einen Moment. „Eigentlich weiß das keiner, aber.. Mein Bruder arbeitet im Palast."

„Und?" Die Verbindungen wollten sich in meinem Kopf einfach nicht erschließen, obwohl alles auf einmal zusammenzuhängen schien.

„Er ist unter denen, die gestern in die Stadt gekommen und dieser verrückte Typ eine Schlägerei mit ihnen anfangen wollte", fuhr er fort, weil er davon ausging, dass ich davon mitbekommen hatte. Tatsächlich hatte ich das ja auch - nur auf eine andere Art und Weise.

Ich schluckte. „Dein Bruder ist eine königliche Palastwache", stellte ich fest.

Er nickte. „Das habe ich doch schon gesagt, Aprillis. Jedenfalls ist er gerade hier und ich habe eben die Chance genutzt, um ihn mal zu sehen."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Hast du mit ihm zufällig über mich geredet?"

Er sah mich erstaunt an und lachte leicht. „Du hälst dich wohl für ziemlich wichtig", neckte er mich.

„Hast du oder hast du nicht?"

Sein Lachen verebbte ein wenig und er zog die Augenbrauen zusammen. „Kann sein.. Warum willst du das so genau wissen?"

Ich stöhnte und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Jetzt ergab alles einen Sinn. Malcolm war nicht zur Arbeit gekommen, weil er seinen Bruder hatte sehen wollen. Lance, der, weil Malcolm die Post nicht ausgeliefert hatte, zur Poststation gelaufen war, um ein Paket abzuholen, hatte zufällig mitbekommen, wie Malcolm und sein Bruder sich über mich unterhalten hatten. Es war wahrscheinlich nichts Entscheidendes gewesen, aber Lance hatte nur meinen Namen gehört, den Soldaten lachen sehen und das Schlimmste vermutet. Wie konnten so viele doofe Zufälle zusammentreffen?

Malcolm schien immer noch nicht zu verstehen, was eigentlich los war, aber ich hatte auch nicht wirklich Lust, ihm alles zu erklären. „Ich hoffe, du hattest trotzdem noch einen schönen Tag mit deinem Bruder."

Er war gleich vom alten Thema abgelenkt und nickte lächelnd. „Das hatte ich tatsächlich. Ich sehe ihn so selten, dass jede Minute, die wir zusammen verbringen, kostbar ist."

Ich lächelte schief. „Das glaube ich. Nachdem ich wiedergekommen bin, konnte ich meine Familie gar nicht mehr loslassen. Wann muss er denn wieder los?"

Malcolm zuckte mit den Schultern. „Das weis ich nicht so genau. Er meinte, dass sie noch ein paar Dinge hier zu erledigen hätten und dann wieder zum Palast aufbrechen würden."

Ich nickte langsam, runzelte aber die Stirn. Dauerte ein Sicherheitscheck so lange? Oder hatte Malcolms Bruder ihn nur beruhigen wollen? Ich sagte aber nichts zu ihm und lächelte nur. „Das ist doch schön."

„Hier. Deswegen bin ich eigentlich hier", er zog einen Brief und ein kleines Paket aus seiner Tasche und hielt es mir hin.

„Du bist also nicht meinetwegen hier?", fragte ich gespielt entrüstet.

Er zwinkerte mir grinsend zu. „Das ist natürlich nur der offizielle Grund. Es ist ein Paket für deinen Dad, glaube ich."

Ich nickte. „Er hat es gestern schon erwartet. Danke." Schwungvoll setzte ich meine Unterschrift auf ein Formular, welches er danach einsteckte und nach einem kurzen Blick auf die Uhr zurücktrat.

„Es war schön, dich wiederzusehen, Aprillis."

Ich verdrehte die Augen. „Du lässt das so wie einen Abschied klingen. Wir sehen uns spätestens morgen wieder."

„Und ich kann es jetzt schon nicht mehr erwarten."

„Verschwinde bloß, du Spinner!", rief ich lachend und verpasste ihm einen Klaps auf die Schulter, bevor er sich umdrehte und mir ein letztes Mal zuwinkte.

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