Kapitel 1

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Oktober 2015

Manchmal malte ich mir aus, wie das Leben ohne mich ausgesehen hätte

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Manchmal malte ich mir aus, wie das Leben ohne mich ausgesehen hätte. Zu Anfang war ich dabei noch der festen Überzeugung gewesen, es würde keinen Menschen auch nur im Geringsten interessieren. Wer war ich schon? Ein Junge, so planlos, dass ich mit dem Obdachlosen unter der Brücke konkurrieren könnte. Highschool Diplom, Studium, Geld, Geld, Geld. Wenn ich erst anfing, das System zu überdenken, tat sich jedesmal ein Loch im Boden auf, sodass ich in freiem Fall hinabstürzte.

Ich war ein Niemand.

Viel wichtiger musste doch diejenigen sein, die dazu bestimmt waren, mit einer simplen Erfindung die Welt zu verändern. Die Menschen, die es mit einer Mathegleichung bis hin zum Nobelpreis brachten. Oder wodurch auch immer man eine solche Auszeichnung erhielt. Alles, was bei meiner Gleichung eine Rolle spielte, war, dass ich unter keinen Umständen jemals einer von ihnen sein würde. Seit Jahren war ich ein Junge, der auf dem Fußboden saß, den Rücken an der Wand und die Kopfhörer in den Ohren, während sich Horden von Schülern an mir vorbeischoben.

Man sollte meinen, alles, das ich sah, waren Hosenbeine und schmutzige Schuhsohlen. Aber in Wahrheit hatte ich von hier unten mehr Durchblick als die Meisten, die von oben auf mich herabsahen. Jeden Morgen tauschten wir Blicke. Ich kannte Gesichter von Fremden. An guten Tagen spürte ich ihr Wohlbefinden und an den schlechten straften sie mich mit purer Abneigung. Doch in jedem ihrer Leben spielte ich eine Rolle. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich nicht ohne ein Wort gehen wollte. Ich würde mich schämen, es mir so leicht gemacht zu haben.

Unwillkürlich musste ich an meine Mom denken. Sie war nie mein Vorbild gewesen, nicht im Leben und nicht im Tod. Dennoch war sie der wunderbarste Mensch, den ich mir hätte vorstellen können. Umso grausamer war es gewesen, zu sehen, wie sie sich allmählich in einen Geist verwandelt hatte. Mit einer Haut so weiß wie Alabaster und hervorstehenden Knochen an den Wangen und Schlüsselbeinen. Eigentlich hätte ich erahnen müssen, was als Nächstes passieren sollte. Doch Kinder glauben nicht, das die Eltern sterben. Sie mussten übermenschlich sein, weil sie alles wussten, einem immer zur Seite gestanden und vor all den Ungeheuern dieser Welt beschützt hatten.

Meine Mom war so jemand gewesen. Mutig, hilfsbereit, immer am Planen für eines ihrer neuen Projekte, in denen sie orientierungslosen Jugendlichen half. In jedem Augenblick meines Lebens hatte ich das Gefühl gehabt, das ich bei meiner Mom ich selbst hatte sein können. Sie war mein größter Fan gewesen, der tapferste Unterstützer und der großzügigste Mensch, den ich hatte kennenlernen dürfen. In ihrer Nähe hätte es weder Unheil noch Krieg gegeben, weil ihre Ruhe jeden Funken von Wut im Keim erstickt hatte. Darum waren sie perfekt füreinander gewesen, mein Dad und meine Mom. Sie hatten sich dort ergänzt, wo man die Schwächen seines Partners spüren und die Nerven reißen hören konnte. Und da Mom eine unverbesserliche Optimistin gewesen war, hatte sie Dad das gezeigt, was viel zu vielen Menschen in dieser verdammten Welt verborgen blieb, weil sie egoistisch waren; die Freiheit. So hatte sie es zumindest selbst bezeichnet. Heute wusste ich es besser;

Einhundert Meilen von dir entferntWhere stories live. Discover now