Kapitel 5

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Emmaly war am Wochenende lange nicht mehr vor 4 Uhr nach Hause gekommen, und es fühlte sich seltsam für sie an. Das Treppenhaus lag still und dunkel da, und das Knacksen der einzelnen Stufen hörte sich in ihren Ohren unheimlich laut und störend an.

Zumindest das unter ihren eigenen Schritten.

Hätte sie nicht gewusst, dass Tony direkt hinter ihr ging - es wäre ihr nicht aufgefallen. Unter seinen Füßen knackste nichts, und auch kein lautes Atmen, überhaupt kein Ton war von ihm zu hören. Es war, als würde ein Geist hinter Emmaly die Treppe hinaufschweben.

Als sie endlich über die Schwelle ihrer Wohnung trat und das Licht des Flures über ihnen aufflammte, entspannte sich etwas in ihr. Erst jetzt war die Anspannung der Nacht in ihren Gliedern zu spüren, als sie dem wohligen Gefühl ihres Zuhauses wich.

Emmaly stellte die Schuhe ab und deutete Tony, ihr leise zu folgen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre, denn auch jetzt gaben die Schritte des eigenartigen Jungen keinen Ton von sich.

Sie gingen in Emmalys Zimmer, und erst als die Tür hinter ihnen geschlossen war, atmete das Mädchen laut durch. Geschafft. Wieder einmal.

Als sie sich zu ihrem Gast umdrehte, ließ dieser gerade einen neugierigen Blick durch den Raum schweifen. Was er sah, war ein wenig wohnliches Chaos, der Schreibtisch war voller Arbeitsblätter aus der Schule, und auf ihrem Bett lagen mehrere Bücher verteilt. Aber ansonsten war Emmaly jemand, der immer Ordnung hielt. Regale, Kleiderschrank, Kommode - alles war sorgfältig sortiert. Der Boden war frisch gesaugt, die Oberflächen erst gestern vom Staub befreit worden. Sie gab niemals jemandem Anlass, sich über ungemütliches Durcheinander zu beschweren. Nicht, dass sie überhaupt sonderlich oft Besuch hatte.

„Setz dich!" Emmaly schob Tony weiter ins Zimmer hinein und deutete auf ihren Schreibtischstuhl. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich, tat aber, wie ihm geheißen wurde. Seine Augen sahen im Licht der Deckenlampe aus, als hätte er schon sehr lange nicht mehr geschlafen.

Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, und kramte im Schrank nach ihrem Erste-Hilfe-Kasten. Den hatte sich das Mädchen vor einigen Monaten angeschafft, um kleine Blessuren schnell verschwinden zu lassen, was sich mit ihrem Job im Post Mortem mehr als einmal ausgezahlt hatte - vollkommen heil kam man aus den wenigsten Schichten.

Beim Wühlen wurde Emmaly klar, dass sie die Wunde gar nicht versorgen konnte, wenn sie nicht wusste, was sich unter der Bandage verbarg. Also hob sie den Blick. „Mach mal das alte Zeug ab, damit ich mir alles genau ansehen kann."

Tony zuckte zurück, als wär sie ihm an die Kehle gesprungen. „Du musst das nicht tun."

„Das Thema hatten wir schon. Und jetzt runter mit dem Verband, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit dafür."

Er zögerte noch einen Moment, bevor er langsam begann, den Verband zu lösen. Abgesehen vom Unbehagen schien ihm das auch Schmerzen zu bereiten, also wandte Emmaly den Blick ab, um es ihm etwas leichter zu machen.

Während sie eine neue Bandage aus der Verpackung nahm, fragte sie beiläufig: „Warum warst du gestern eigentlich bei Ona?" Sie konnte nicht anders, auch wenn vielleicht gerade nicht der beste Moment dafür war, und zwischen ihnen wirklich noch nicht viel Vertrauen in der Luft lag.

Tony sog scharf die Luft ein, dann schwieg er für eine Weile. Als sie schon dachte, er würde gar nicht mehr antworten, kam ein einziges, geflüstertes Wort aus seiner Richtung: „Deshalb."

Emmaly sah zu ihm und konnte nicht anders, als einen völlig erschütternden Laut von sich zu geben. „Oh mein Gott!"

Sie hatte versucht, sich auf jeden Anblick gefasst zu machen, aber was unter dem Verband zutage kam, verschlug ihr den Atem. Tonys Haut war feuerrot und aufgesprungen, seine kompletten Hände von blutigen Blasen überzogen. Es sah so schmerzhaft aus, so frisch, dass Emmaly es beinahe am eigenen Leib spüren konnte. „Sie sind total..."

Post MortemWhere stories live. Discover now