1st Kiss

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1st KISS

  ... oder als ich entführt wurde

Als ich ein kleines Kind war, ungefähr fünf Jahre alt und total ahnungslos wie ein Gummiball durch die Welt hüpfte, bin ich mit meiner Mutter ständig in den Sam Houston Park gleich um die Ecke gegangen. Bei schönem Wetter haben wir sogar dort gepicknickt und Sandburgen gebaut. Natürlich waren meine Burgen weder stabil noch schön. Sie sahen eher so aus, als hätte ein Sandmonster dort hingekotzt. Aber für meine hohen fünf Jahre war das das beste Sandburgenschloss, was die Menschheit je gesehen hat.

Und wenn ich geduldig, ruhig und aufmerksam war, konnte ich sogar Vogelnester mit kleinen Küken beobachten, die in den Büschen hingen. Ich legte mich also auf die Lauer und sah mit an, wie die Vogelmutter einen Wurm nach den anderen brachte und diese an ihre Kinder verfütterte. Von Schnabel zu Schnabel hing der Wurm in krümmigen Bewegungen und hatte nur noch wenige Sekunden zu leben.

Aber das war früher. Der Wurm ist längst tot und die Küken längst ausgewachsen – wenn nicht sogar ebenfalls tot.

Elf Jahre später allerdings fühle ich mich in diesen Moment zurück versetzt. Nur dass ich mich nicht im Sam Houston Park befinde, sondern Zuhause. Ich beobachte auch keine kleinen, fast nackten Küken, sondern meinen älteren Bruder Ben und seine Cheerleader-Freundin Hailey. Und es sind auch keine armen, hilflosen Würmer, die gleich sterben, sondern zwei Menschen, die an ihren Zungen, die sie sich gegenseitig in den Mund schieben, ersticken.

Ich bin fasziniert davon, wie lange die durchhalten, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Testweise höre ich auf zu atmen und zähle im Kopf die Sekunden mit. Eins, Zwei, Drei, Vier, . . .

Dreiunddreißig. Ich schnappe nach Luft und atme tief durch. Wow, unfassbar, wie lange die durchhalten.

Doch auf einmal unterbricht Hailey den Kuss und schielt mit geschwollenen Lippen in meine Richtung. »Muss deine Schwester uns unbedingt dabei beobachten?«

Ben löst seinen gierigen Blick von seiner ebenfalls gierigen Freundin, um mich anzusehen. »Verzieh dich, Tate«, brummt er und setzt seine Lippen auf ihren Hals.

»Ihr könntet auch einfach in dein Zimmer gehen, anstatt im Wohnzimmer über euch herzufallen«, schnaube ich und verdrehe die Augen, während ich mit dem Löffel in meiner Suppe herum rühre. »Ich esse.«

Mein Bruder stöhnt genervt auf, erhebt sich aber vom Sofa und zieht Hailey an der Hand hinter sich her in sein Zimmer. Echt Unfassbar.

Eigentlich müsste ich schon längst daran gewöhnt sein, immerhin sind die beiden seit fast einem Jahr zusammen. Die Frage, wie Ben das schon so lange mit ihr aushält, stelle ich mir immer wieder. Denn wirklich nett oder schlau scheint Hailey nicht zu sein. Wahrscheinlich erfüllen die beiden sich gegenseitig nur einen Aspekt.

Und der wäre Sex.

Mit meinen sechzehn Jahren habe ich zwar schon seit zwei Jahren die offizielle Erlaubnis Geschlechtsverkehr zu haben, aber irgendwie bin ich davon noch weitentfernt. Die Neandertaler, die in der Seven Lakes High School herumlaufen legen mehr Wert auf die Menge, als auf die Qualität der Beute.

Wahrscheinlich gibt es auch Ausnahmen, aber die habe ich noch nicht kennengelernt.

Meine Mutter betritt die Küche und legt die Einkäufe vor mir auf den Tisch ab. »Ist dein Bruder auch da?«

»Er kommt bestimmt gleich«, antworte ich und verkneife mir das Grinsen.

Während sie den Aufschnitt in den Kühlschrank räumt, runzelt sie die Stirn, belässt es aber dabei. »Hast du heute Abend noch was vor?«, fragt sie mich dann.

Blind KissWhere stories live. Discover now