V.

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Der nächste Morgen war komisch. Er wusste nicht recht, wie er auf sie zugehen sollte. Der Kuss, er war schön, doch er wusste nicht recht, was das mit ihnen und zwischen ihnen jetzt war. Er wusste nicht, was ihr der Kuss bedeutete. Er wollte sie nicht bedrängen, sich in ihr Leben zwingen. Er wusste sehr gut, dass man sich nicht wohl fühlte, wenn es eine Person gab, die einem zu nah kam. Doch er wollte nicht aus ihrem Leben gehen müssen.

Er entschloss sich dazu, sie erstmal schlafen zu lassen. Gestern wurde es spät, sie war sicher müde.

Ihr war komisch zu Mute. Nie hatte sie einen Menschen das sehen lassen, wie er es gesehen hatte. Niemand wusste, wie nah sie am Abgrund stand, niemand machte sich Sorgen um sie, es ginge ihr nicht gut, niemand war ihr je so nahe gekommen, dass er auch nur etwas ahnen könnte. Und sie fühlte sich schlagartig unwohl, wenn sie daran dachte, ihn wieder zu sehen.

Einerseits hatte er ihr das Gefühl gegeben, für sie da zu sein, ihr beizustehen und in ihr eine Hoffnung geweckt. Er hatte eine Hoffnung geweckt, aber auch wieder den Konflikt.

Sie konnte es einfach nicht übers Herz bringen, sich selbst etwas so gravierendes anzutun, wenn sie wusste, dass es jemanden gab, den das verletzen würde. Früher tat sie sich nichts Schlimmeres an, weil sie wusste, dass ihre Eltern es sich nie verzeihen könnten. Sie wussten zwar irgendwann Bescheid, doch sie konnte nicht mit dem Gedanken gehen. Auch die Menschen in der Schule, die nie etwas ahnten, wären überrascht, entrüstet. Sie könnten die Schuld bei sich suchen. Das wollte sie nicht. Andererseits wollte sie auch nicht einfach verschwinden. Sie wollte schon jemanden spüren lassen, die Menschen auf sich aufmerksam machen, zu zeigen, was all die Zeit in ihr vorging. Was sie nicht sahen, übersahen, bewusst ignorierten.

Und dieser Zwiespalt war nun wieder da. Es war wieder jemand, der sich sorgte. Doch sie wollte und konnte sich ihm nicht anvertrauen. Sie konnte, nachdem sie die ganze Zeit geschwiegen hatte, nicht darüber sprechen. So oft hatte sie sich nach jemandem gesehnt, der ihr zuhört, doch die Stimmung, in der sie reden wollte, war immerzu sehr kurz. Bis derjenige Zeit für sie hatte, überspielte sie es wieder alles. Und sie wollte ihn nicht verlieren. Wenn das alles zu viel für ihn war und er sie wieder verlassen würde, das ging nicht.

Sie wusste einfach nicht, wie sie ihm begegnen sollte. Und allein der Gedanke daran, dass sie ihm begegnen musste, bereitete ihr Übelkeit. Jede unangenehme Situation und jedes unangenehme Gefühl tat das. Es war schon fast normal.

Normal. Normal, das bedeutet so etwas wie gewöhnlich. Für einen Reichen ist es normal, mit einem teuren Auto zu fahren. Für Arme ist es normal, zu Fuß zu gehen, beides ist „normal". Und so passierte es bei ihr. Sich normal fühlen, das hieß bei ihr, dass sie kaum etwas fühlte, dass ihr schlecht war, sie sich unwohl fühlte, etwas anderes wollte, aber doch nichts ändern konnte.

Sie lag einfach da. Sie wollte nicht. Sie wollte es einfach nicht, es war einfach zu viel. Sie starrte die Decke an. Die einzelnen grauen Flecken, die im Laufe der Jahre entstanden sind. Und sie fühlte nichts. Sie fühlte nicht mal etwas. All die schönen Gefühle, die Schwerelosigkeit, die sie gestern gehabt hatte, sie war erloschen. Sie wusste nicht warum, doch alles Positive verschwand jedes Mal kurz darauf. Sie versuchte, auf Partys das zu bekommen, was sie gestern Abend fühlte, was sie so lange vermisste, seit sie alle Menschen verloren hatte.

Sie hörte das Knarzen der Treppenstufen. Jemand ging langsam die Treppe hinauf. Sie wusste, dass es nur er sein konnte. Sie wollte sich verkriechen, dass sich der Boden auftat, sie ihn nicht ansehen musste. Sie wollte schlafen, einfach nichts spüren gerade. Doch als sich die Tür öffnete, war sie wie erstarrt. Sie schaffte es nicht einmal, ihre Augen zu schließen.

„Hey, wie geht's dir?", fragte er sanft.
Sie antwortete nicht. Sie starrte einfach weiter gegen die Decke.
„Brauchst du Hilfe?", fragte er jetzt etwas besorgter.
Sie starrte weiterhin gegen die Decke, doch schüttelte leicht den Kopf.
„Ich glaube, wir sollten nicht wegfahren. Gestern schien es so, so, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich dachte, es würde witzig werden, wir würden uns finden und so. Dieser ganze Quatsch. Ich weiß aber nicht, ob ich das schaffen kann. Ich werde dir professionelle Hilfe suchen, das gestern, ja du weißt ja sicher selbst."

Sie schreckte hoch. Wenn es eine Sache war, was sie keinesfalls wollte, dann war es Hilfe. Sie wollte in keine Klinik, und sie wollte nicht schwach sein. Sie wollte es allein schaffen. Sie konnte es nicht ertragen, zu wissen, dass sie die sämtlichen einfachen Dinge nicht machen konnte.

„Nein.", sagte sie.

Er setzte sich an ihr Bett und begann über ihre Haare zu streichen. Er sagte nichts. Er schwieg einfach. Er wusste sich auch nicht zu helfen. Er sah ihr seidiges Haar an, sie hatte wunderschöne Augen. Sie war dünn, ihre Haut spannte über ihre Knochen, sie war farblos und blass. Ihr fehlte die Ausstrahlung. Sie war eines der hübschesten Frauen, die er je gesehen hatte. Doch sie war blass, unscheinbar und grau, weil sie keine Ausstrahlung hatte.

„Bitte lass uns dann doch losfahren.", sagte sie plötzlich.

Ihre Stimmung schwankte wie immer. Sie stieg wieder ein bisschen und sie fühlte sich, als wolle sie weg. Weg aus dieser grässlichen Situation, und sie spürte eine Hoffnung, etwas zu finden, wenn sie wegging.

Er schaute sie an. Sie schaute zurück. Zwei leere und emotionslose Blicke trafen sich.

„Wenn du willst. Dir was abschlagen fällt mir schon schwer.", sagte er und begann zu grinsen.

Danach stand er auf und ließ sie im Bett. Sie schaute weiter die Decke an und hoffte, bald einzuschlafen. Denn schlafen, das war ihr so lieb. Man spürte nichts, man musste nichts ertragen und es war, als wäre man Tod, nur war man eben nicht tot. Es hatte noch etwas, man kam zurück. Es war nicht endgültig, denn vor der Endgültigkeit, da hatte sie Angst.

Er ging hinab. Sein alter Camper stand vor dem Haus. Darin waren noch Geschirr und einige Klamotten aus der Zeit, als er noch in ihm hauste. Er lud Essen ein. Und nahm die Kleidung von ihr aus der Wäsche, frische Bettwäsche aus dem Haushaltsraum und ein Album, das er beim Stöbern im Keller gefunden hatte.

Das Haus hatte einen gespenstigen Keller, es war wie eine kleine Villa und schon alt. Dort unten standen viele Kisten herum. Er hatte sie alle durchstöbert, als er bei schlechtem Wetter seine Zeit zuhause totschlug. Und dort war ihm das Fotoalbum aufgefallen. Es waren viele Kinderfotos von ihr eingeklebt, auf denen sie strahlte. Sie musste ein fröhliches Kind gewesen sein.

Der Camper war schon ziemlich voll. Er hatte sicherheitshalber noch ein Zelt eingepackt, falls sie nicht so nah bei ihm schlafen wollte. Es war schon ziemlich eng, mit all dem Gepäck. Und wenn er daran dachte, hier mit zwei Personen zu hausen, und falls es schlechtes Wetter geben würde, den ganzen Tag dort zu verbringen, das würde sehr eng werden.

Er dachte an ein größeres Wohnmobil. Vielleicht könnten sie unterwegs eins kaufen. Vielleicht würden sie etwas finden. Und vielleicht würden sie das finden, was sie schon so lange suchten.

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⏰ Last updated: May 14, 2018 ⏰

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schwarze LöcherWhere stories live. Discover now