IV.

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Schon einige Monate später hatte sich eine Routine zwischen ihnen entwickelt. Jeden Morgen stand er auf, um ihr Frühstück zu machen. Jeden Tag wartete ein Croissant auf sie, daneben ein Orangensaft. Je nachdem, wie es ihr ging, frühstückte sie, oder blieb eben im Bett.

Er fühlte sich wohl im Haus. Er mochte sie, er mochte sie wirklich sehr. Doch es verletzte ihn, zu sehen, wie sie sich verletzte. Aber er versuchte stark zu sein für sie. Er wollte nicht, dass sich irgendwer so fühlte, wie er sich gefühlt hatte. Niemand sollte das durchstehen müssen.

Jeden Tag ging er los, um mit seiner Gitarre Lächeln in die Gesichter der grauen Großstadt zaubern. Es half ihm, glücklich zu sein, wenn er andere glücklich machte. Und sie war mittlerweile ein so wichtiger Teil, dass er versuchte, ihr wieder etwas Sonnenschein zu geben, um den schwarzen Nebel aus ihr zu vertreiben.

Als er an jenem Tag nach Hause kam, sah er sie wie normalerweise nicht im Wohnzimmer. Sie saß oft in ihrem Bett. Saß einfach nur dort und starrte gegen die Wand, ohne auf etwas zu reagieren. Er ging nach oben, um nach ihr zu schauen. Er hatte Angst, sie würde sich etwas antun. Er hatte Angst, dass sie irgendetwas den einen bestimmten Punkt erreichen ließ, an dem sie sich ein Ende setzte.

Er betrat ihr Zimmer, doch sah sie nicht. Ihr Bett war verwühlt und einige Kissen lagen verstreut auf dem Boden. Überall dazwischen waren zerknüllte Taschentücher.

Er war geschockt und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Sein Atem stockte und sein Mund wurde trocken, sein Bauch zog sich zusammen. Wo war sie? Was hatte sie gemacht?

Sein Blick viel auf eine kleine, glänzende Klinge in der Mitte des Bettes, unter der ein kleiner Blutfleck zu sehen war. Ein zerknäultes Blatt Papier lag daneben. Wie in Trance griff er danach. Es war ein Brief, an sie gerichtet. „Carolin, unsere kleine Blüte. Wir haben unser Glück in Spanien gefunden. Die Natur ist wunderschön und wir sind glücklicher denn je, das einzige, das uns noch belastet, ist, dass wir unsere Tochter verloren haben. Es bricht uns das Herz, nicht zu wissen, wo du bist, was du machst, wie es dir geht. Es tut uns leid, so verblendet gewesen zu sein und uns all die Jahre nicht gemeldet zu haben. Aber sei dir bewusst, dass wir jedes Jahr an deinem Geburtstag eine Kerze für dich angezündet haben und wir dich niemals vergessen haben. Wir würden uns so freuen, dich einmal wieder zu sehen. Bitte entschließ dich doch noch dazu, wieder zu uns zu kommen. Eine Familie muss doch vereint sein. In Liebe, deine Eltern.", las er.

Ihm war klar, dass der Punkt nun erreicht sein könnte. Doch er wollte sie nicht gehen lassen. Jetzt war es noch zu früh. Er wusste, dass er es nicht überstehen würde, ginge sie, weil ihr die Kraft fehlte.

Aber er wusste nicht, was er tun könnte, um sie zu finden. Sie war nicht zuhause, sie könnte überall sein. Schon tot, auf dem Weg nach Spanien, oder sich in den Abgrund stürzend. In ihm verbreitete sich Panik. Er musste sie irgendwie finden. Gezwungen dachte er darüber nach, wo sie sein könnte. Doch ihm fiel kein wirklicher Ort ein.

Im Chaos des Zimmers entdeckte er ein kleines, in Leder gebundenes Buch. Als er es in die Hand nahm, sah er, dass ihr Name in geschwungenen, goldenen Buchstaben eingraviert war. Er öffnete das Büchlein und sah, dass es ihr Tagebuch sein musste. Der erste Eintrag lag schon Jahre zurück. Er blätterte durch die Seiten und entdeckte eine Liste, ohne Überschrift.

Es waren einige Brücken aufgelistet, Seen, Schlafmittel und Bahnstationen. Ihm stockte der Atem. Sie war vermutlich auf dem Weg zu einem dieser Orte.

Schnell rannte er die Treppe hinunter, das Buch in der linken und die Liste in der rechten Hand, er würde die Orte nacheinander alle abgehen.

Er rannte die Straßen entlang, als würde er vor der Nacht davon laufen, die der Sonnenuntergang ankündigte. Er rannte und rannte, seine Brust tat ihm weh, weil er so heftig ein- und ausatmete, seine Beine schmerzten, weil er schon so lange rannte. Doch in ihm gab es plötzlich eine Kraft, die ihn das durchhalten ließ, sie zu finden.

Er rannte und rannte, bis er den Stadtrand erreichte. Er würde weiter laufen, weiter durch den Wald bis zu dem See, wieder zurück zu all den Brücken, quer verteilt durch die Stadt. Doch etwas in ihm hatte ihn an diesen einen Ort geführt. Als würde ihm das Schicksal sagen, sie würde dort sein.

Und tatsächlich. Sie saß mit angewinkelten Beinen auf dem breiten Geländer der Brücke, die gerade über den Fluss führte. Hier fuhren kaum Autos entlang und es war still, bis auf das Rauschen des Wassers. Die Dämmerung hatte sonst etwas so romantisches, doch an diesem Tag war es bedrohlich. Es schien etwas in der Luft zu liegen, etwas Böses, furchtbar Schreckliches, das nur darauf wartete, einen von hinten an zu fallen und zu zerfleischen.

Langsam trat er von hinten an sie heran, immer noch schwer atmend von seinem Sprint.

„Hey", sagte er sanft und legte seine Hand auf ihren Rücken. Sie bewegte sich nicht und schaute still weiter auf die seichten Wellen der Strömung.

„Hey", sagte er ein weiteres Mal behutsam, „es ist schon okay. Komm her.". Er breitete seine Arme aus und sie lehnte sich leicht an. Langsam strich er mit einer Hand über ihre Haare. Er wusste, dass sie jetzt Nähe brauchte.

Langsam rollte eine Träne aus ihrem Auge. Eine zweite, eine dritte und er wischte sie alle weg. Langsam begann sie an zu schluchzen und er drückte sie näher und näher an sich. Lange schwiegen sie zusammen an der Brücke.

„Bitte versprich mir, nie wieder weg zu gehen. Und bitte spring nicht, spring nicht ohne mich", flüsterte er nach einiger Zeit in ihr Ohr. Sie nickte und sie blieben noch für Stunden auf dem Geländer der Brücke sitzen, schauten die Sterne an und genossen die Zeit. Es musste nicht gesprochen werden.

Als es wirklich stockdunkel geworden war, entschieden sie sich, nach Hause zu gehen. Langsam spazierten sie wieder in die Stadt hinein. Die Straßenlaternen leuchteten, erhellten jedoch nicht alles, so wie sie sich fühlte.

„Ich habe ihn gesehen.", begann er.
„Dachte ich mir schon."
„Wenn du möchtest, dann können wir zu ihnen. Also mit meinem Camper. Dann könnt ihr reden."
„Hör mir zu", sagte sie bestimmt und blieb stehen, „ich habe sie aus meinem Leben ziemlich gestrichen. Sie wollten unbedingt, dass ich mitkomme. Aber ich wollte es einfach nicht. Sie hatten schon so viele Sachen gemacht, weil sie sich irgendwie gesucht hatten. Ich bin so oft umgezogen, habe irgendwelche Hobbys gemacht, das wollte ich aber nicht. Nicht nochmal. Und da sie nicht hierbleiben wollten, sie haben nicht mal gesehen, wie sehr ich sie gebraucht hätte. Sie haben gesehen, dass ich viel zu oft zu viel getrunken habe, dass ich Drogen genommen habe, und sie, sie haben mich einfach zuhause eingesperrt. Und bei meinen wirklichen Problemen haben sie einfach weggeschaut. Ich bin besser dran ohne sie. Aber andererseits liebe ich sie trotzdem irgendwie und ich...irgendwie vermisse ich ihre Nähe. Ich weiß nicht, ob ich glücklicher wäre, oder ob ich noch tiefer fallen würde. Verdammt ich weiß es halt einfach nicht. Und das macht mich so fertig. Ich weiß einfach nichts. Ich kriege es nicht alleine hin. Das ist das Problem. Aber versuch nicht mich zu verstehen. Das macht alles nur noch komplizierter."
„Du, ich verstehe das. Willst du, dass ich dir helfe?"
„Nein. Das fällt mir gerade verdammt schwer, weißt du. Ich habe noch nie Hilfe angenommen. Und ich bekomme das auch noch alleine hin."
„Schon in Ordnung. Wir machen das einfach so, wir fahren morgen los. Mit meinem Camper. So Richtung Spanien, zu deinen Eltern. Und wenn du dann nicht möchtest, fahren wir wieder. Zu verlieren haben wir nichts."
„Das ist doch verrückt."
„Wir sind doch irgendwie verrückt."
„Und was machen wir dann?"
„Das, was wir wollen. Das wäre cool. Wir wären frei, wir kämen raus."
„Zu verlieren haben wir nichts, oder?"
„Nein. Zu verlieren haben wir nichts.", sagte er und näherte sich ihr. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und schaute ihr tief in die Augen. „Ist jetzt wohl der richtige Augenblick?"
„Zu verlieren haben wir nichts", sagte sie mit einem neckischen Lächeln im Gesicht. Es war das erste Lächeln seit langem, das man in ihrem Gesicht sehen konnte. Und sie war nicht zugedröhnt oder tat sich etwas an.

Und er überwand die letzten Zentimeter und legte seine Lippen sanft auf ihre. Und es war anders, anders als sonst. Durch ihren Bauch zog ein warmes Kribbeln statt der sonst so gewohnten Kälte bei einem Kuss. Sie fühlte sich seit langen einen Schritt eher vom Abgrund entfernt, als auf ihn zugetreten.


schwarze LöcherWhere stories live. Discover now