»Aber nicht du. Hattest du überhaupt eine zweite große Liebe?«

Milan zog es vor, zu schweigen.

»Also nicht.« Ein Nicken. »Das dachte ich mir.«

»Hör auf, ihn zu ärgern«, sagte Eva. »Ick will die Jeschichte hören. Milan, rück raus mit der Story. Wie heißt dein Bruder?«

»Ex-Stiefbruder.« Milan seufzte und lockerte die Schultern. »Er heißt Jules. Wir waren ... sechzehn, als unsere Eltern zusammengezogen sind. Ich hab nicht mal gewusst, dass meine Mutter einen Neuen hat, bis ihr Ex sie rausgeworfen hat und wir direkt zu seiner Haustür marschiert sind. Und dann hab ich das Zimmer mit Jules geteilt.«

»Lange?«, fragte Eva.

»Ein Jahr lang ungefähr. Wir sind ... zusammengewachsen. Am Anfang konnte ich ihn nicht leiden, aber wenn ich zurückdenke ... Dass ich überhaupt schreibe, hab ich ihm zu verdanken. Mit ihm hab ich meinen ersten Thriller gelesen. Vorher kannte ich überhaupt niemanden, der aus Spaß liest, aber er war so begeistert und ... süß.« Er räusperte sich.

Selbst Rob schien beeindruckt. »Du warst echt in ihn verliebt. Was ist passiert?«

»Er war auch in mich verliebt.« Milan sah auf das Bierglas in seinen Händen. »Das hat er mir gestern gesagt.«

Ein leises Juchzen. Rob schlug die Hände vor den Mund.

»Na, dit klingt doch super«, sagte Eva. »Und dann ist er auch noch mit dir heimgekommen. Holt ihr jetzt nach, was ihr verpasst habt, oder was?«

»Ja. Nein. Es gibt ein Problem.« Raus damit, Milan. »Es gibt etwas, das er nicht weiß.«

»Das wird ja immer besser.« Zebulon merkte nicht einmal, dass seine Dreadlocks in Robs Bier hingen, so konzentriert war er. »Was ist es?«

Milan zögerte. »Es ging damit los, dass unsere Eltern ihren Job verloren haben. Sie haben beide in diesem Supermarkt gearbeitet und der ging von einem Tag auf den anderen pleite. Was scheiße war, weil sie sich eh nur noch gestritten haben. Jeden Abend. Wir haben in unserem Zimmer alles gehört.«

Jules hatte von dem Buch aufgesehen, das sie gemeinsam gelesen hatten und gefragt, ob sie immer noch Brüder sein würden, wenn die beiden sich trennten. Milan hatte irgendetwas gemurmelt, das sich als »Ja« interpretieren ließ. Und mit Schrecken festgestellt, dass er Jules nicht mehr jeden Tag sehen würde, wenn ihre Eltern sich trennen würden. Warum ihm das vorher nicht in den Sinn gekommen war, wusste er nicht. Wahrscheinlich hatte er nicht daran denken wollen.

»Alles, was wir noch hatten, war die Notreserve von Jules' Vater und die wurde jeden Tag kleiner. Und das Arbeitslosengeld, klar, aber das war nicht so viel. Jules und ich wussten, dass die beiden Schluss machen, wenn es so weitergeht. Aber ich wollte nicht aufgeben.«

»Wegen Jules.« Robs Augen leuchteten.

»Wegen Jules.« Milans Stimme kratzte in seinem Hals. »Und, weil jeden Tag Dosensuppe einem auf den Magen schlägt. Also habe ich einen Plan geschmiedet. Einen saudummen Plan, aber mir kam er genial vor. Nobelpreisverdächtig.« Er widerstand dem Impuls, die Stirn auf die Tischplatte zu hauen. »Wisst ihr, der Chef der Supermarktkette war reich. Den hat es nicht gekümmert, dass die Filialen pleite gingen. Der hat einfach alles seiner Frau überschrieben und auf irgendwelchen Konten untergebracht und hat weiter in seiner fetten Villa gelebt und seinen Porsche 996 gefahren und sich einen Scheiß darum geschert, was aus seinen Angestellten wird. Nur, weil der Trottel nicht mit Geld umgehen konnte, mussten wir leiden. So hab ich damals zumindest gedacht.«

»Hat's gestimmt?«, fragte Eva.

Milan zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Hat aber gereicht, dass ich dachte, das Schwein soll dafür zahlen. Den nehmen wir richtig aus.«

»Oh, kommt jetzt dein genialer Plan?«

»Mein genialer Plan war ein billiger Einbruch.« Milan fuhr sich über die kurzgeschorenen Haare. »Hab mit einem Kumpel tagelang die Villa beobachtet. Der Geldsack hat tagsüber die Alarmanlage ausgeschaltet, weil seine Frau und er zu faul waren, jedes Mal die Kombination einzutippen, wenn sie reinkamen. Nur nachts hat er sie aktiviert. Mein Kumpel meinte, das machen viele so. Der kannte sich schon aus, hatte auch schon mal gesessen. Dass sie ihn so jung schon erwischt haben, hätte mir eigentlich zu denken geben müssen. Mir hätte klar sein müssen, dass der Typ nicht zuverlässig ist. War's mir aber nicht. Ich hab ihn bewundert. War richtig stolz, dass er mit mir da einsteigen wollte. Fast so stolz«, seine Stimme wurde rauer, »wie Jules, dass er mitmachen durfte. Ich hab's ihm angeboten. Ich dummes Arschloch.«

»War Jules schon vorher kriminell, oder ...« Eva wedelte mit der Hand.

»Jules?« Milan lachte abgehackt. »Der war ein Streber. Ein liebes, harmloses Milchgesicht. Der hat das nur gemacht, um seinem Vater zu helfen. Und, um mich zu beeindrucken. Mich! Der hätte gar nicht ... Ach, scheiße. Und dann ging der Einbruch natürlich schief. Das heißt, der Einbruch hat super funktioniert. Wir sind echt am helllichten Tag da eingestiegen und haben alles an Bargeld mitgenommen, was wir gefunden haben. War imposant für ein armes Gör wie mich. Der Kerl hatte einen Indoor-Swimmingpool. Ich hab reingepisst.«

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Rob. »Und wann ging es schief?«

»Danach. Als wir die Beute aufgeteilt haben.« Milan versank für einen Moment in der Vergangenheit. Piet, sein Kumpel, hatte sogar eine eigene Bude gehabt. Auf dem klebrigen, mit leeren Bierflaschen und Pillen übersäten Küchentisch hatten sie die Scheine ausgekippt und in drei Haufen sortiert. Und dann war es schiefgegangen. Jules, der sich bis dahin super gehalten hatte, hatte fast einen Nervenzusammenbruch bekommen, als Piet einen Witz über eine Überwachungskamera gemacht hatte. Und Piet hatte gewiehert wie ein gedoptes Pferd. Piet war gedopt gewesen. Seine geweiteten Pupillen und seine ruckartigen Bewegungen hatten es bewiesen. Und dann hatte er nachgezählt und behauptet, in der Schreibtischschublade wäre viel mehr Geld gewesen ...

»Milan?« Valentins Augen waren kugelrund. »Geht's dir gut?«

Milan schüttelte den Kopf. »Er hat ... Piet, mein Kumpel, der dachte, dass Jules was eingesteckt hätte. Und er wollte, dass er das rausrückt, aber natürlich hatte Jules nichts, und plötzlich hatte Piet ein Messer in der Hand und dann ...« Dreizehn Jahre später und ihm kam immer noch fast das Abendessen hoch, wenn er es vor sich sah. »Jules hat geschaut, als könnte das gar nicht sein, als Piet ihm das in die Rippen gerammt hat und ich war zu langsam, zu verdammt langsam und ... Ich hab mich auf Piet gestürzt und Jules hat geschrien und ...« Seine Kehle wurde eng. »Ich hab den Notarzt gerufen. Hab Jules rausgeschleppt. Er hat's geschafft, aber ... Verdammt, ich hab ihn am nächsten Tag besucht und da war er so verkabelt und bleich und ...« Milan atmete tief in den Bauch, um sich zu beruhigen. »Und das war alles meine Schuld.«

Vier Augenpaare starrten ihn an.

»Deine Vergangenheit ist interessanter als ich dachte«, gab Zebulon zu. »Ich hab geglaubt, du spielst den knallharten Ex-Kriminellen nur.«

»Tu ich auch.« Milan klang, als hätte er Schleifsteine statt Mandeln. »Damals schon. Ich hab geheult wie ein Baby, als sie Jules auf die Bahre gelegt haben. Ich wollte doch nicht, dass sowas ... Aber es ist passiert. Und es ist meine Schuld.«

»Na ja.« Eva räusperte sich. »Jules wollte doch dabei sein, oder? Du hast ihn nicht gezwungen.«

»Ich musste Jules zu nichts zwingen. Der hat alles gemacht, was ich von ihm verlangt habe. Na, fast alles. Er hat mich nicht in Ruhe gelassen, egal, wie sehr ich ihn beleidigt habe.«

»Aber es war seine Entscheidung«, sagte Zebulon. »Ich verstehe deine Schuldgefühle, aber rein logisch betrachtet ...«

»Er hatte keine Ahnung, worauf er sich einlässt. Der kannte Typen wie Piet gar nicht.«

»Ihr seid in eine Villa eingebrochen. Er muss gewusst haben, dass es gefährlich wird.«

Milan wollte es glauben. Er wollte das Gespräch hier beenden, wollte denken, dass Jules nicht seinetwegen fast gestorben war, aber er konnte es nicht. Die Wahrheit musste raus.

»Das ist noch nicht alles«, sagte er.

Milan - Dichte Dichter 1Where stories live. Discover now