~ 7 ~

190 52 62
                                    



Ihr nächstes Ziel scheint Kiara klar vor Augen zu liegen und ich beschließe aus verschiedenen Gründen, mich an ihre Fersen zu heften. Einerseits, so muss ich zugeben, gefällt mir die illusorische Freiheit keine Verpflichtungen zu haben und mich ohne konkreten Plan überraschen zu lassen, was sich diese geheimnisvolle Frau als nächstes ausgedacht hat, andererseits nimmt mich Kiaras Gesellschaft auf eine besondere Weise gefangen und weckt in mir den Wunsch, mehr über sie zu erfahren.

Kiara allerdings hüllt sich, was ihre Person oder ihre Geschichte betrifft, gerne in Schweigen und so beschließe ich, die Zeit, die sie uns beiden zugesteht, zu nutzen, denn irgendetwas vermittelt mir das Gefühl, dass sich meine Begleiterin mit einem Wimpernschlag verflüchtigen könnte.

Der heutige Weg, den wir größtenteils zu Fuß zurücklegen, zieht sich quer durch die ganze Stadt und auch wenn Kiara mir verschweigt, wohin sie ihre Schritte steuert, kriege ich allmählich eine leise Ahnung, welches unsere nächste Station sein könnte. Und so bin ich nicht erstaunt, als wir am späteren Nachmittag vor der Roten Fabrik, die idyllisch am Seeufer liegt, zu stehen kommen.

Die roten Ziegelsteinmauern der ältesten und wohl einzig echten Kulturfabrik Zürichs, zieren Graffitis aller Art. Der Zürichsee, der uns zwischen den Gebäuden entgegen funkelt, heisst uns willkommen und lässt wohl in den meisten Besuchern die Frage aufkommen, weshalb sie nicht öfters hierher pilgern.

Auch ich bilde da keine Ausnahme. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal hier war, doch ich weiß es nicht mehr. In meiner frühen Jugend gab es jedoch Zeiten, in der die Rote Fabrik als meine zweite Heimat hätte herhalten können. Egal ob Konzerte, Partys oder nur mit Freunden abhängen, die Rote Fabrik war unser Ort. Eines meiner ersten Konzerte die ich hier besucht habe, war das der Red Hot Chili Peppers, mit bestem, altbewährtem Punkrock, bevor sie sich im Mainstream verloren haben.

Mit Kiara fühle ich mich wie ein Tourist in meiner eigenen Stadt. Ich genieße es, mir meine Heimat von ihr zeigen zu lassen und auf eine besondere Weise betrachte ich die Dinge heute von einer anderen Seite. Von einer neuen Seite.

Wir gehen runter bis ans Seeufer, wo sich auch das fabrikeigene Restaurant Ziegel oh Lac befindet. Ein Typ mit Zopf und Jesus-mäßiger Ausstrahlung grüßt Kiara, als ginge sie hier täglich ein und aus.

„Hey Kiara! Was läuft? Du arbeitest heute?"

„John. Alles klar? Nein, heute nicht. Musst dich an Enrico halten."

John hebt die Hand zum Gruß und zieht weiter seines Weges.

Bevor ich mich fragen kann, was es mit John und Enrico auf sich hat, lotst mich Kiara am Restaurant und dessen Freilufttischen vorbei, zu einem einstöckigen Bau, der von Efeu umarmt wird.

„Komm mit!"

Ein Trampelpfad führt auf die hintere Seite des kleinen Gebäudes, wo eine rostige Wendeltreppe, durch wilde Büsche und Bäume beinahe unsichtbar geworden, angebracht ist.

Triumphierend und mit einer Begeisterung, die jedes Girlie an einem Boygroup-Konzert in den Schatten stellen könnte, zeigt Kiara nach oben.

„Hier, mein lieber Sam, ist mein Rückzugsort. Und du kannst mir glauben, nicht viele Leute kennen ihn."

Kiara gibt mir noch immer mehr Rätsel auf, als sie mir bisher Antworten geliefert hat, doch das Strahlen, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitet, lässt alle Fragen als unwichtig erscheinen.

Mit Sicherheit weiß nur eines: ich verbringe meine Zeit mit einer fast vollkommen Fremden, die mir auf eine Art, die ich selber noch nicht ganz verstehe, vertrauter ist, als es mein eigener Bruder jemals war.

Als erstes erklimmt Olav die Stufen, danach werde ich von Kiara die Treppe hinauf gescheucht.

Oben angekommen, halte ich erstaunt inne. Ein wohnlicher Couchtisch, drei, wohl selbst gezimmerte Liegen und eine Menge Pflanzen, machen das Dach zum Outdoor-Wohnzimmer. Die Mauer rundherum ist vielleicht sechzig Zentimeter in die Höhe gezogen und diese Höhe der Mauer reicht aus, um Kiaras Freiluft-Rückzugsort für einen Betrachter vom Boden aus, unsichtbar zu machen.

Kiara wieselt zu einer Truhe, deren Vorhängeschloss sie mit einem Schlüssel öffnet. Sie zieht ein paar Gläser mit Kerzen und ein paar Kissen, die sie auf den Liegen verteilt, hervor. Als Krönung des Ganzen, zaubert sie eine Schale mit Früchten auf den Tisch.

„Ich nehme an, du magst was essen?"

Und dann kam Olav...  #IdeenzauberWhere stories live. Discover now