Kapitel 1 - Die Angst

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Ich musste nicht lange auf mein Ende warten. Gleich am nächsten Morgen wurde ich abgeholt und in den Thronsaal gebracht. Ich war nicht die Einzige, die bald sterben würde. Es waren genau achtzehn andere.

In der Stunde, die ich im Saal verbrachte, war mein Kopf vollkommen leer. Ich dachte an gar nichts. Ich konnte es einfach nicht wahr haben, dass ich bald sterben würde. Das Mädchen vor mir, etwa zwei Jahre jünger als ich, weinte die ganze Zeit unaufhörlich.

Irgendwie war es tröstlich, nicht die Einzige zu sein, die bald sterben würde. Außerdem gab es hier bestimmt Menschen, die aus einem weitaus harmloseren Grund als bei mir (oder gar keinem Grund) umgebracht wurden.

Erst, als der Thronfolger in den Saal kam, das Schwert in der Hand, bekam ich richtige Angst. Mit meiner Angst kamen wieder die tausend Gedanken. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wenn ja, werde ich in den Himmel kommen oder in die Hölle? Werden meine Eltern um mich trauern? Wird mich hier irgendjemand vermissen? Wird mein Tod vielleicht Sachen in der Welt bewegen? Warum muss ich nur so früh sterben?

Ich sah dabei zu, wie die erste Person erstochen wurde. Ein kleiner Junge, höchstens sieben Jahre alt. Ich fragte mich, warum er sterben musste. Dann kam ein älterer Herr an die Reihe, der vor seinem Tod nochmal betete. Auch er wurde nicht verschont.

Nach der fünften Person wechselte der Prinz zur Keule und schlug damit den Opfern die Köpfe weg. Der Mörder zuckte nicht mal mit der Wimper, als er dem kleinen Mädchen den Kopf wegschlug.

Dann war ich dran. Mein Kopf wurde plötzlich wieder ganz leer, als ich auf den harten Steinboden gedrückt wurde. Der Herrscher wechselte von der Keule zu der Axt, ehe er sich vor mich hinstellte. Ich achtete darauf, ihm furchtlos in die Augen zu sehen. Für eine kurze Zeit erwiderte der Herr meinen Blick und versuchte, mich einzuschüchtern, doch ich ließ es nicht zu. Wir sahen uns eine lange Zeit nur stumm an. Je länger wir uns ansahen, umso mehr stieg meine Hoffnung, doch noch zu überleben. Bis er die Axt hob und ausholte. Ich achtete darauf, nicht den Kopf zu senken oder die Augen zu schließen. Außerdem versuchte ich meine Angst nicht zu zeigen. Ich würde würdevoll sterben!

„HALT!" Doch es war zu spät, ich spürte, wie sich die Klinge in mein Fleisch bohrte und kurz danach der Schmerz eintrat. Ich biss mir auf die Zunge um nicht aufzuschreien.

„Was gibt's?" hörte ich den Prinzen fragen. Als der Schmerz ertragbar wurde, atmete ich hörbar aus und versuchte, meinen Puls unter Kontrolle zu bekommen. Alles ist gut. Ich lebe noch., redete ich mir ein. Er hatte mich nur am Arm getroffen. Eine schwere Wunde, aber ich lebe noch.

„B-bitte, ich flehe Sie an. Bitte bringen Sie sie nicht um. Ich kenne sie. Ich weiß, dass sie ihre Fehler einsieht." Ich drehte den Kopf zu meinem Retter und erkannte... Mirko. Das hatte ich ja ganz vergessen, er arbeitete im Schloss!

„Ich bin mir sicher, viele dieser Menschen bereuten ihre Fehler – und trotzdem sind sie jetzt tot."

„Ja, ich weiß, aber... Bitte, bringen Sie sie nicht um. Ich..." Mirko fiel kein passendes Argument ein. „... bitte. Vertrauen Sie mir einfach. Ich garantiere Ihnen, egal, was sie getan hat, sie wird es nicht wieder tun."

„Mirko..." Der Prinz ließ die Axt wieder sinken. „Was... was hat sie denn überhaupt getan?" fiel Mirko ihm ins Wort. „Hat sie jemanden bedroht? Getötet?"

„Hm... Shadow, was hat sie nochmal getan?" fragte der Thronfolger. „Ich habe sie dabei erwischt, wie sie im Schloss herumgeschlichen ist. Als ich sie angesprochen habe, ist sie weggelaufen. Äußerst verdächtigt." Das war der Mann von gestern. Shadow... Wenigstens sagte er die Wahrheit, nicht so, wie die anderen Männer.

Die gescheiterte RäuberschwesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt