Schritte in die Zukunft

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Gestärkt erhebe ich mich vom Lagerfeuer, schlucke den letzten Bissen Mammutfleisch hinunter und stecke mir meine zwei Steinäxte unter den rauen Ledergürtel. Mein Ziel kenne ich nicht. Aber ich bin dorthin unterwegs. Die Landschaft verändert sich, während ich dahinwandere. Sie wird dürrer, die Bäume werden weniger und stacheliger mit jedem Schritt. Fünftausend Schritte sind es, bis ich dem nächsten Menschen begegne. Er trägt ein langes, weißes Gewand aus einem Material, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht beginnt er mit mir um meine Ersatz-Steinaxt zu feilschen. Schlussendlich einigen wir uns auf sein weißes Gewand und ein kleines Messer aus „Eisen", gegen mein Werkzeug. Kaum zehn Schritte weiter in meinen neuen Kleidern, ausgestattet mit dem neuen Messer, begegne ich einer großen Menschenansammlung. Sie beginnen, Höhlen aus Steinen, Holz und Lehm um mich herum zu errichten, und mit jedem Schritt, den ich weitergehe, werden sie mehr. Nach weiteren tausend Schritten begegne ich einem alten Mann am Straßenrand. Sein Haar ist leuchtend weiß, sein Bart grau wie Granit, nur sein Mund scheint so jung und fit, wie eine Gazelle zu sein. Er stellt mir eine auf den ersten Anschein simple Frage: „Wer bist du?" Als ich ihm meinen Namen nenne, wiederholt er sich: „Wer bist du?" Doch ich muss schon weitergehen, bevor ich weiter darüber nachdenken kann. Männer in roten Gewändern, Panzern aus Eisen, Schwertern aus Stahl und großen Schilden treiben mich voran immer weiter nach Norden hinaus aus der Stadt mindestens dreihundert, vierhundert Schritte lang, bis sie endlich Rast machen und beginnen, guten Wein zu trinken, sich die Bäuche vollzuschlagen. Gut fünfzig oder hundert Schritte weiter treffe ich eine weitere Gruppe dieser Männer und werde Zeuge, wie sie von einer riesigen Anzahl von Reitern vertrieben werden.

Ich bin unterwegs, wohin, das weiß ich nicht.
Noch mal einhundert Schritte weiter habe ich mein weißes Gewand gegen Kleider aus schönem blauen und purpurnen Samtstoff eingetauscht, marschiere westwärts und trage ein großes, schweres Buch mit Seiten aus Pergament bei mir. Ich kann es nicht lesen, habe aber jedes Wort auswendig gelernt, und obwohl ich die Sprachen nicht verstehe, sage ich mir den Inhalt Tag für Tag vor. Die Männer, welche mich belehren wollen, mit ihnen weiterzugehen, um erlöst zu werden, ignoriere ich. Zumindest für die nächsten vierhundert Schritte, denn dann, als ich endlich in der nächsten Stadt ankomme und die Menschen dort sehe, wie sie schreiend und rufend in Richtung Osten marschieren, geeint unter einem Banner, besteige ich den nächstbesten Wagen und fliehe zusammen mit einem Mann weiter nach Norden, der meint, diese Menschen wären alle verrückt, doch leider müsse er sich ihren Anführern ebenfalls beugen.
Ich bin unterwegs, wohin?
Von der Heimat des Mannes mit dem Wagen, fahre ich südwärts, fünfhundert Schritte lang und begegne einem offensichtlich Verrückten, der meint, die Welt wäre eine Kugel. Er tut mir irgendwie leid, und ich helfe ihm, Schiffe zu bekommen, um seine Idee zu überprüfen, welche sich nun mit jedem weiteren Schritt immer weiter verbreitet. Ich begleite ihn nach Westen. Zweihundert Schritte im neuen Land getan und eine große Zahl Männer dient mir, beschafft mir Gewänder aus gutem Leinenstoff. Schöne, schwarze Gewänder und einen Hut, der aussieht, wie ein umgestülptes Wasserglas. Auch können diese Männer Donner machen, nur dadurch, dass sie Stöcke in den Händen halten. Und sie bauen Häuser schneller, als der Wind die Blätter im Herbst von den Bäumen fegt. Dann, ich habe kaum fünfzig Schritte in meinen neuen Lebensumständen als „Gutsherr" getan, da kommen Heerscharen von Männern in einheitlichen, roten Gewändern über das Meer und lassen den Donner auf mein Land herabregnen. Wieder muss ich fliehen. Fünfzig Schritte lang versuche ich mit dem Schiff zurückzukommen in meine Heimat, finde jedoch nichts weiter vor, als eine verbrannte Erde. Endloslange sitze ich da in meiner Kutsche, schaue hinaus, sehe nur schwarz, grau und Elend. Ich bin unterwegs. Wieso? Ich hatte es doch so gut, vor tausenden von Schritten. Meine Kleidung wechselt sich nun mit jedem Schritt, die Dinge, die ich ihn der Hand halte, werden immer nützlicher und raffinierter. Dann, ich habe weitere hundert Schritte getan, verliere ich mit einem Schlag alles und wandle über eine Ebene voller Häuser, ohne Innenleben, nur die Fassaden stehen noch, und nur ganz langsam kommen die Menschen zurück, richten auf, was zerstört wurde. Und es stimmt mich fröhlich, ihnen in meiner Baumwoll-Latzhose mit der Baskenmütze auf dem Kopf zu helfen. Dann setze ich mich in den Zug, will weiter. Ich möchte meinen nächsten Schritt setzen, doch stoße ich an eine Mauer, einen Zaun – ganz aus Metall. Niemand darf weitergehen, niemand. In einer Zeit, in der ich viele Schritte hätte tun können, sitze ich herum, warte, endlich weitergehen zu können und telefoniere mit meinem alten Freund drüben im Neuen Land. Wieder hat er eine verrückte Idee, er möchte den Mond besuchen! Und er lädt mich ein, dabei zu sein. Gute elf bis zwölf Schritte später stehe ich dort oben auf diesem Felsen voller Nichts, blicke hinunter auf die übergroße Murmel, wie sie da vor mir in der Schwärze schwebt und trage nichts, als einen komischen, weißen Anzug mit einem großen Helm und filme meinen Freund mit einer Kamera. Das Flugzeug bringt uns zurück nach Osten und ich darf endlich, nach so vielen Schritten, dabei sein, wie ein Stück meines alten Lebens, das tausende von Schritten zurückliegt, wieder zum Leben erweckt wird. Wenn auch dieses Mammut nicht wirklich lebt, sondern ausgestopft ist, wie eine Weihnachtsgans, so ist es doch etwas Vertrautes. Und der Vorschlag meines neuen Freundes, es wiederzuerwecken, stimmt mich so froh, wie ich seit tausenden von Schritten nicht war. Inzwischen füllt sich mein Kleiderschrank immer weiter an, die unterschiedlichsten Modelle in den verschiedensten Farben hängen in ihm. Alle kommen sie von irgendeinem Zeitpunkt meiner Reise. Dinge, mit Funktionen so zahlreich wie die Farben des Meeres, stapeln sich in meiner Wohnung. Alle möchte ich sie verwenden. Alle habe ich sie liebgewonnen. Das Telefon, den Ofen, die Kamera, die Gaslampe, das Buch mit den Pergamentseiten, das Eisenmesser, die Steinaxt. Jeder zehntel Schritt zeigt mir Sachen, die ich mir nie hätte erträumen lassen. Niemals. Die Welt zieht vorbei in Schlieren, so schnell wandelt sie sich. Und ich, ich stehe hier, mitten in diesem Raumschiff mit Kurs auf den Mars – und halte meine Steinaxt in den Händen, trage meinen Lederlendenschurz mit dem alten Ledergürtel.
Ich bin unterwegs. Wohin? Das weiß ich nicht. Begleite mich, dann finden wir es gemeinsam heraus.


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