Eins mit dem Wind

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 Heute in der Früh habe ich bei den Worten dieses Medizinmannes noch den Kopf geschüttelt.
"Wenn du dort oben stehst, wirst du dir wünschen, zu fallen."
Jetzt aber, da ich hier stehe - oder besser wackle, balanciere, wie auch immer das Verb lautet für: Mitten in Luft zwischen zwei Heißluftballons auf einem Drahtseil spazieren - jetzt denke ich mir, ja, eigentlich hatte er Recht. Es ist wirklich irgendwie so, dass ich mir wünsche, ich könnte meinem Körper befehlen, einen einzelnen Schritt nach links oder rechts zu machen, zu fallen in die Tiefe.
Aber irgendetwas hält mich zurück.
Angst? - Nein. Wenn man so verrückt ist, hier zu stehen, wo ich gerade bin, existiert Angst nur noch als Abfolge der Buchstaben A-n-g-s und t.
Der Gedanke an meine Familie, die es nicht ertragen könnte, mich fallen zu sehen? - Vielleicht. Ich würde fallen, sie würden es sehen. Aber mir würde ja nichts geschehen, es wäre ja alles in bester Ordnung.
Der Wille, den anderen Ballon zu erreichen? - Ja, das ist es wahrscheinlich, was mich zurückhält. Ich bin so weit gekommen, habe so viel riskiert, so lange darauf gewartet, endlich hier oben zu sein, in tausenden Metern Höhe über der afrikanischen Savanne, in der Luft hängend, nur gesichert durch ein dünnes Drahtseil gespannt zwischen zwei Heißluftballons.
Ich will dort drüben ankommen.
Deshalb auch setze ich jetzt den linken vor den rechten Fuß, dann den rechten vor den linken und wieder den linken vor den rechten. Immer weiter, ohne Pause, immer voran.
Die Welt um mich herum verschwimmt, wird zu nichts, als dem Raum, der mich umgibt.
Und dann spüre ich es, spüre die Vibration, wie sie durch das Seil schießt, sehe den einen Ballon abdriften, sehe die Haare meiner Freundin dort drüben im Wind flattern, spüre - wie ich falle.
Und springe ab, drücke mich ab mit aller Kraft, die ich habe und segle hinunter in die endlose Tiefe, hinab in Richtung des Bodens, tausende Meter unter mir.
Ich strecke die Arme aus nach links und rechts, so als würde ich kopfüber balancieren wollen, drehe mich freudig um mich selbst, schraube mich der afrikanischen Savanne entgegen. Wind pfeift mir an den Ohren vorbei, reißt an meinen Haaren, meiner Jacke, meinen Händen, meinen Beinen, versucht mich abzubremsen.
Aber ich will nicht abgebremst werden, möchte fallen, fliegen, frei sein.
Genauso, wie es der Medizinmann gesagt hat.
Und dann, nach endlosen, überglücklichen Moment des absoluten Losgelöstseins von allem reiße ich an der neben mir flatternden Leine und gleite behütet und sanft hinab auf den Boden. Komme auf und werde vom Bunten Stoff meines Fallschirms zugedeckt. 

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