Alleingänge

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Vren beendete ihren Bericht mit einem bedeutungsschwangeren Nicken in Richtung Renoir. „Was denkt sich der Kerl? Was denkt er sich?", raunte er dem Kamin zu, den Kopf auf die Hände gestützt, mit gerunzelter Stirn. „Einerseits benutzt er Tellings Namen, andererseits schlüpft er immer wieder mit voller Absicht in meine Rolle. Wo ist der Sinn oder hat er jetzt den Verstand verloren?"

Ylaine, ließ von ihren Haarsträhnen ab, die sie gedankenverloren zu dünnen Zöpfen flocht. „Ich bin sicher, den Decknamen Telling benutzt er nur für geschäftliche Zwecke und abseits der eigentlichen Geschichten. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen euch ist nicht zu leugnen, aber dass er sich so vehement als du ausgibt, ist ziemlich schräg."

„Na, entweder er will den Verdacht auf dich lenken", philosophierte Nigel, „was ziemlich in die Hose gegangen ist. Oder er hat so einen Tick. Wie ein Stalker, der seinem Idol nacheifert und versucht, dessen Platz einzunehmen."

„Aber er verachtet alles, was ich tue. Das habt ihr doch gehört", entgegnete Renoir.

„Womöglich nicht alles", nahm Fausten den Faden auf. „Was, wenn er dir nur den Erfolg neidet? Er ist eifersüchtig, dass du so viel von der Welt gesehen hast, während er sich aus seinen Klostermauern nicht heraustraute. Oder aber er hing dermaßen an dir, dass er dich nicht mit irgendwem teilen wollte. Ich meine, wem will er immer wieder die Morde in die Schuhe schieben? Den Waldbewohnern! Erinnere dich nur an diesen Monolog: „Nur er war es, der den Sonderlingen die Beichte abnahm, nur er, den sie mit allerlei betrauten. Und wie sie verschlossen waren, so wurde auch er verschlossen seinem Freund gegenüber." Er ist eifersüchtig auf jeden, der dir näher steht als er selbst und auf alles was du ohne ihn erlebst. Wahrscheinlich sieht er in dir etwas Ähnliches wie sein Eigentum."

Renoir starrte an Fausten vorbei auf die Wand. Eine Weile besah er sich den Gedanken, drehte ihn nachdenklich, verglich ihn mit seinen Erinnerungen und versank in alten Bildern. Schließlich erhob er sich. „Ich habe schon lange nicht mehr gebetet... Wir sollten es für heute gut sein lassen. Vren, kannst du uns einen Platz zum Schlafen weisen?" Die Grande Dame nickte und zeigte auf eine Tür, hinter der einige provisorische Matratzen mitsamt Kissen und Decken lagen. Ohne ihnen eine gute Nacht zu wünschen, zog sich der Inquisitor zurück. Durch die dünnen Wände konnte er hören, dass die anderen in aufgeregte Gespräche vertieft waren. Etwas drückte in seine Seite. Langsam zog er den Revolver hervor. Seit sie das Heim der Wongs verlassen hatten, war klar, dass es zu einem Kampf kommen würde. Und nun, da der Augenblick näher rückte, drängte sich eine Frage auf, die schon eine Weile am Rande seines Bewusstseins ausgeharrt hatte. Wenn sein ehemaliger Freund sich wahrhaftig der Gefangennahme widersetzte, wenn das Leben der anderen oder sein eigenes davon abhing, brächte er es über sich? Durch ein Fenster drangen Rufe von der Straße herein. Der Hochstapler schickte seine Leute aus. Ein Ultimatum, die Neuankömmlinge auszuliefern, wurde wohl ausgesprochen. Wer würde den Abzug drücken?

Es wurde spät. Die Gerüchte waren bis zu der geselligen Runde in Vrens Haus vorgedrungen und die Bürgermeister der Totenstadt bekräftigten ihre Loyalität. Einen Tyrannen wollte man in der Unterwelt nicht dulden und wenn nötig würden sie in einen echten Krieg ziehen. Bald verabschiedete sich Vren und zog sich ebenfalls zur Nachtruhe in ihr eigenes Zimmer zurück. Faust und Mephisto beschlossen eine letzte Runde unter dem Glasdach zu drehen, durch das mittlerweile die Sterne herab leuchteten. Ylaine verschwand im Bad und kurz darauf im improvisierten Schlafsaal.

Ronen und Nigel saßen schweigend nebeneinander. Ohne den Blick vom Kamin abzuwenden richtete der Sohn der Sekretärin eine Frage an den Amerikaner: „Die Menschen, die du getötet hast... Bereust du es? Ich meine nicht nur deine Verurteilung."

„Warum willst du das wissen?"

„Weil ich wissen will, wie es sich anfühlt."

Nigel richtete sich im Sessel auf. Er verharrte, während Ronen ihn aufmerksam fixierte, den Mund leicht geöffnet, die Luft anhaltend.

„Es verfolgt mich. Nicht immer, es gibt Tage an denen ich gar nicht daran denke. Aber nachts verfolgen mich ihre Gesichter und dann versuche ich mich zu rechtfertigen. Mein Stiefvater war ein Monster, denke ich und kann mir einreden, es wäre Gerechtigkeit. Doch die anderen? Und ich frage mich, was mich dazu bringt und ich verstehe es. Aber dann wieder ekle ich mich vor mir selbst. Kennst du Macbeth? Ich hab ihn mal geguckt, also die Verfilmung. Der hat immer geglaubt, gleich würde es ihn holen und dann war er wieder der starke Herrscher, immer so hin und her. So in etwa fühle ich mich, nur ohne diesen Prophezeiungsquatsch."

Ronen nickte: „Ja, genau so... Wir haben beide etwas gut zu machen." Die Tür öffnete sich. Leise schwatzend kamen Fausten und Mephisto herein. Zum ersten Mal seit Tashars Tod wirkte sie annähernd fröhlich. Die beiden nickten den Männern am Feuer kurz zu und verschwanden ebenfalls im Schlafsaal. Einige Minuten lauschten Ronen und Nigel, bevor sie ihre Unterhaltung im Flüsterton fortsetzten.

„Was genau hast du gutzumachen? Du kannst doch nichts für deine bescheuerte Mutter."

„Ich... ich denke nur, ich hätte etwas unternehmen sollen. Sonst nichts."

„Na, wenn das alles ist."

Ronen seufzte. Plötzlich stand er mit einem Ruck auf, nahm seine Pistole heraus und funkelte Nigel entschlossen an. „Lass uns gehen! Ich kenne mich hier aus und du kannst töten. Wir erledigen diesen Hochstapler."

„Moment, was soll das heißen: „Du kannst töten"? Ich bin doch kein Auftragsmörder!"

Ronen schnaufte verächtlich: „Glaubst du, die anderen werden den Mumm dazu haben? Ein Priester, ein Möchte-gern-Teufel, eine Heilerin und eine weichherzige Erzählerin? Außerdem, willst du Ylaine wirklich dabei haben? Sie könnte getroffen werden. Dieser zweite Telling zieht die Strippen einer Geschichte, in der sie eine der Hauptfiguren ist. Glaubst du nicht, dass wir ihm in die Hände spielen, wenn wir alle hereinmarschieren wie Schießbudenfiguren?"

Nigel schluckte. Er wusste, dass Ylaine ihr gemeinsamer wunder Punkt war. Wortlos griff er seinerseits zur Waffe, warf einen kurzen Blick zur Schlafsaaltür und reichte Ronen mit einer grimmigen Geste die Hand.

Kaum ein Mensch war mehr auf den Wegen und Stegen. Leise zogen die Ausreißer die Tür hinter sich zu. Ein Schatten huschte in einiger Ferne vorbei. Sie zuckten kurz zusammen, duckten sich immer wieder hinter Mauern. Sie lenkten ihre Schritte zum gleichen Gang, durch den sie die Stadt zuvor betreten hatten. Nigel nickte zu den beiden Wachen, die an der Wand gelehnt dasaßen. „Es riecht nach dem Schlafpulver, das Ylaine für ihre Bälle verwendet. Wir sollten die Stadt alarmieren", bemerkte Ronen, zog Nigel zum Ausgang, gab einen Schuss aus der Pistole ab. Der Hall raste durch die Schlucht, prallte an den Wänden ab, brach sich und riss die Totenstadt aus ihrem Schlaf. Die beiden Männer warteten nicht, sondern schlüpften hinaus in das Labyrinth.

Zur gleichen Zeit erschien eine schlanke Gestalt auf den Überwachungsmonitoren im Unterschlupf des falschen Tellings. Mit der einen Hand drückte sie sich den Hut auf den Kopf, die andere verbarg sie unter dem schwarzen Reisemantel. Mit weiten Schritten flatterte sie daher, ganz so als kannte sie ihren Weg recht genau. An einer Öffnung, die in einen geräumigen Vorraum mündete, verharrte sie. Für einen Moment blitzten Atom und Feder an ihrem Finger auf. Auch Renoir hatte sich davongestohlen.


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