Ein Hauch von Verrat

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„Dieser Morderzähler Telling ist so mächtig, dass er gut bewachte Farbgewehre gegen echte Schusswaffen austauschen lassen konnte. Und die sind nun wirklich nicht einfach zu bekommen. Tashar hat sich von diesem Schock nie wieder erholt und dieses Geisterdorf zu seinem Gefängnis erklärt", endete Henrike. Sie stand immer noch am Fenster, die Tasse umklammert. Ihre Schultern hingen herab. Langsam stand Ylaine auf. Die Schusswunde an der Schulter ziepte ein wenig. Sie versuchte das Bein aufzustellen. Sofort stand Faust neben ihr und fing den Sturz ab. „Setz dich wieder hin! Du wirst schon früh genug weiterhetzen müssen."

Wie im Flug verging der Tag und erst als die Sonne schon längst dem Mond das Feld überlassen hatte, zogen die beiden Männer ihre Stiefel an der Türe aus, legten die Schaufeln in den Eingangsbereich. Nigel wirkte viel kleiner als bisher. Während der ganzen Zeit war er wie ein bedrängter Platzhirsch herumgetigert. Tashar lächelte seiner Geliebten traurig zu, nahm sich etwas zu Essen und verschwand. Treppenstufen knarrten. Schweigend versammelten sich die verbliebenen Bewohner am Tisch. Henrike hatte irgendwo eine Gehhilfe gefunden, sodass Ylaine durch den kleinen Wohnraum hinken und sich dazugesellen konnte.

Tage vergingen. Fast hatten sie die Ausgestoßenen vergessen, als an einem Morgen das Mobiltelefon klingelte. „Verdammt, was ist denn hier los?" Ylaine humpelte zu ihrem Gürtelbeutel. Der Akku war schwach, die Verbindung bedenklich schlecht. „Ich bin's Ronen. Wo bist du? Es gibt eine Spur und die Wächter aus Filet den Daak sind auf dem Weg zu einem Herrn Tashar. Es gibt Hinweise, dass er hinter der ganzen Sache steckt." Das wichtigste in dem Moment war, nicht die Fassung zu verlieren. So schnell sah man selten eine Hautfarbe von blass zu scheintot wechseln.

„Oh, das ist... Wo ist er und wann sind die Wachen da? Ich meine..."

„Alles in Ordnung Ylaine. Die Waldbewohner haben Ärger gemacht. Wir haben sie vorläufig festgenommen. Es hat Zeit gekostet aber in einer Stunde müssten sie das Dorf, in dem er sich versteckt hält, erreicht haben."

„Ihr habt alle Waldleute festgenommen?", fragte Ylaine, als sie ihren Kiefer wieder eingerenkt hatte.

„Nun ja, natürlich gibt es in der Gegend kein Gefängnis, das groß genug wäre. Sie sind in der Kirche und... ja... Es hört sich an, als hätten sie eine religiöse Grundsatzdiskussion losgetreten. Wie auch immer, wo bist du?"

Sie holte mit dem gesunden Arm aus und schleuderte das Mobiltelefon gegen die nächstbeste Wand, wo es sich - Abra Kadabra - in ein äußerst kompliziertes Puzzle aus unzähligen Kleinteilen verwandelte. Irgendwo zwischen einem Lachanfall bei dem Gedanken an Magiewesen, die mit der verstockten Nonne einen religiösen Diskurs anfingen und der Gewissheit, dass gerade eine enorme Anzahl bewaffneter Füße auf die Dorfruine zu stampfte und die Toten am Marktplatz heftig durchschüttelte, wurde sich Ylaine der verdutzten Mienen der Umstehenden bewusst.

„Wir müssen weg, alle!", erklärte sie schließlich, „Irgendwer – Ich wette ein Spitzel von Telling – hat der Sekretärin den Floh ins Ohr gesetzt, Tashar für den Übeltäter zu halten."

„Dann ist es für euch beide an der Zeit uns zu verlassen. Nigel, ein gutgemeinter Rat von mir: Tu, was Ylaine sagt. Sie ist im Moment die einzige, die dir aus dem Schlamassel heraushilft."

„Und ihr?"

„SOFORT! Du weißt ja, Südsüdwest und Mephisto begleitet euch als Zeichen, dass ihr unter meinem Schutz reist."

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft betrat Ylaine die Außenwelt. Sie verabschiedete sich von Tashar, der jedoch weiter starr auf der Treppe hockte und die Holzkreuze betrachtete. Die Schaufel hatte er gegen ein scharfes Zweihandschwert getauscht, das eindeutig nicht aus Gummi bestand. Zusammen mit Nigel, der dicht an ihrer Seite blieb, umrundete sie das Haus und gelangte zu einem kleinen Unterstand, in dem ein Pferd verträumt an einem Heuballen knabberte.

Mephisto tollte vor ihnen her und lotste sie durch den Wald, in dem es keine Pfade gab und sich Flechten wie Spinnennetze um Äste schlangen. Ylaine musste sich andauernd im Sattel ducken, Bein wie Schulter schmerzten und jede Minute würde die Hölle über Henrike Faust und Tashar hereinbrechen. Irgendwo raschelte ein Busch. Warum hatte sich Ronen erst so spät gemeldet? Vögel jagten durch das Blätterdach. Warum hatte man Renoir und sie überhaupt allein losgeschickt? Motorenlärm weit über ihnen. Warum kam niemand auf die Idee anonyme Hinweise zu hinterfragen?


Sie waren schon eine Weile unterwegs, als sich Zweierlei unter die Geräusche des lichter werdenden Holzmeeres mischte. Das eine war ein beständiges Rauschen, das andere Stimmengewirr. Nigel wandte sich fragend um. Sein Körper strahlte Panik und Gewalt aus. Befehle erschollen von weit her, sowohl vor als auch hinter ihnen. „Steig auf!", befahl Ylaine, „Und nimm die Zügel."

Das Leder schnalzte und sie preschten durch Gebüsch auf die rauen Stimmen zu. Rasselnde Ketten deuteten auf das Lichten eines Ankers hin. Sie bildete sich knarzende Mastbäume ein und hoffte darauf, dass die Zeit zu ihren Gunsten ablief. Die Befehle der Landratten klangen von weitem, die der Seeleute nahe. Der Wald gab sie frei. Mephisto hechelte hintendrein. In der Sandbank kam das Pferd langsamer vorwärts. Ihre helle Stimme reichte kaum bis ans Wasser, doch sie wurden entdeckt.

Kräftige Männer wie aus einem Piratenfilm beäugten sie. Der Pudel ließ sie die Waffen senken. Sie wollte nicht herausfinden, ob es echte waren. „Ahoi, Landratten!", schnauzte ein bärtiger Holzbeiniger und es klang wie eine Drohung, während er ins Wasser ausspuckte. „Habt ihr Platz für zwei Leute, Kapitän?", rief sie. Nigel hob sie von dem tänzelnden Pferd und blickte immer wieder nach hinten. „Was für ein beschissener Ort!", knurrte er, als man ihn misstrauisch umkreiste. „Ich trau dem Vogel da nicht!"

„Wir kommen von Faust. Ihr habt den Pudel gesehen, Herr!"

„Ein Vieh ist keine Freikarte, Schätzchen. Außerdem kennst du bestimmt den Spruch: Frauen an Bord bringen Unglück... besonders solche, die Gesellschaft mitbringen, wie ich höre."

„Bitte, wir sind auf der Flucht vor den Ehrlosen, den Morderzählern. Wir müssen nach Zerun'a!", bekräftigte Ylaine.

„Ehrlose?" Holzbein beugte sich zu der Erzählerin, spuckte noch einmal aus und lachte verächtlich. „Weißt du, wie wir sie nennen? Blutmusen... Einer von ihnen, oder eher seine Überreste machen sich gut als Gallionsfigur."

Nigel stolperte einen Schritt zurück. Plötzlich drehte sich die Sache. Verrat eilte vom Wald her auf sie zu. Sie mussten jeden Augenblick durch den Blättervorhang brechen. Ein Leichnam hing am Schiffsbug. Einige Männer schnitten ihn los und übergaben ihn dem Fluss, wo seine Gespensterhaut noch einmal aufleuchtete, bevor sie davontrieb.

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