Hexen und Nixen

296 30 3
                                    



Majorana indessen wurde in Ketten gelegt und unter großem Getue nach Little Village gezerrt. Sie hatte es aufgegeben eine ansatzweise vernünftige Konversation zu führen, da man sie immer mit einem theatralisch vollkommen überzogenem „Schweig stille, Satansweib!" abwürgte.

Der Dorfplatz, der das Ziel der kurzen Reise bildete, war gefüllt vom Markttreiben und den dazugehörigen lautstarken Diskussionen über die aktuellen Wechselkurse von Hühnereiern und Weizenmehl. Demzufolge wurde der lächerlichen Prozession kaum Beachtung geschenkt, was den Anführer des Gefangenentransports offensichtlich so zur Weißglut brachte, dass er mit dem Bogen auf alles einschlug, was ihm im Weg stand. Er hatte gerade einen Greis aufs Korn genommen, der sich als eine Nummer zu groß für ihn herausstellte. Kaum hatte das Holz die Schulter des Alten getroffen, fuhr dieser herum und versenkte seine Gehhilfe gezielt da, wo es richtig schmerzte. Er warf Majorana noch einen geringschätzigen Blick zu und stapfte davon, während der Soldat quäkend auf dem Boden herumrollte. „Wollt ihr ihn nicht verhaften?", fragte sie sarkastisch, fing sich dafür einen Schlag zwischen die Schulterblätter ein und wurde weitergezerrt, als der Anführer seine Contenance wiedererlangt hatte.

Die Reise endete in einem Höhlenverlies, das ansonsten leer stand und vom vorherigen Dorfchef als Pausenraum für die Wachen genutzt worden war. Die ausgehangenen Gittertüren wurden nämlich gerade erst wieder eingesetzt und alle komfortablen Sitzmöbel rausgeschafft, damit zukünftige Insassen es bloß nicht zu gemütlich hatten.

Nachdem man sie in die dunkelste und engste Nische geworfen hatte, ohne ihr vorher die Fesseln abzunehmen, war Majorana wieder in der Lage klare Gedanken zu fassen. Noch hoffte sie auf eine Verwechslung, die sich bald aufklären sollte. Die Vehemenz mit der man ihre Erklärungsversuche abblockte, sprach jedoch allzu deutlich dagegen. Im Moment kam ihr nur ein Grund in den Sinn, warum man sie offensichtlich schnell von der Bildfläche verschwinden lassen wollte: Sie war auf dem richtigen Weg. Irgendwo in der Nähe befanden sich die Verantwortlichen der schrecklichen Tragödie in den Bergen und die wussten, dass sie es wusste... oder glaubten es zumindest.

Je länger sie die kalten Metallstäbe betrachtete, die fest im feucht glänzenden, unbehauenen Gestein verankert waren und je verzweifelter sie versuchte, sich gleichzeitig von den Fesseln zu befreien, desto endgültiger erschien ihr das Schicksal, das auf sie wartete.


Einige Treppenwindungen später, hatte Ylaine endlich den Ausgang erreicht und trat fluchtartig an die frische Luft, die sie in den letzten Minuten arg vermisst hatte. Ein Chauffeur wartete bereits auf sie und geleitete sie zum Dienstwagen der Sekretärin. Umständlich verbeugte er sich, um gleichzeitig die Tür eines Chevrolets aus dem Jahre 1911 zu öffnen, der jedem Autohistoriker in einen nostalgischen Liebesrausch gestürzt hätte, wäre es nicht a) ein Nachbau und b) ein unauthentisches Elektrofahrzeug gewesen.

Drinnen wurde es eng, da bereits die Sekretärin, Ronen und ein Leibwächter auf der Rückbank ausharrten. Mit einem Nicken begrüßte die mächtigste Frau des Landes ihre neue Erzählerin. Das Reden übernahm ihr Sohn: „Willkommen Ylaine. Ich freue mich wirklich außerordentlich, dich bei uns begrüßen zu dürfen. Es gibt bereits den ersten Auftrag für dich. Ein kleines Dorf hat nach einem Inquisitor schicken lassen. Es geht um eine Hexe, die angeblich ihr Unwesen treibt. Deine Aufgabe wird es sein, die Geschichte in die richtige Bahn lenken."

Sie nickte zögerlich. Normalerweise lief das Ganze anders ab. Niemand beauftragte einen Erzähler damit, in eine laufende Geschichte hineinzuplatzen, um schon bestehende Handlungen umzulenken. Üblicherweise betreute man eine Erzählung vom Anfang bis zum Ende, manchmal sogar darüber hinaus. „Wer ist aktuell involviert?", hakte Ylaine nach, erntete aber nur einen mahnenden Blick der Sekretärin, die ihr und Ronen zu verstehen gab, dass dies keine Information war, die man brauchte. „Aber dann erklärt mir bitte wenigstens, wie alles begann. Wer ist die Hexe, was soll mit ihr passieren und welche Anklagepunkte liegen vor? Welche Schlüsselfiguren gibt es und was motiviert sie?"

FederlesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt