„Ich weiß, die habe ich auch."

Freudlos lachte er auf. „Als ob du vor irgendetwas Angst hättest. Du bist doch die die immer einen Plan hat und die alles im Griff behält. Ohne dich wären wir hier komplett am Arsch. Wie soll das erst laufen wenn du aufs Collage gehst?"

Ich löste mich und schaute ihm in die rot unterlaufenen Augen. „Dave, nur weil ich dann nicht mehr hier lebe, heißt das nicht, dass ich nie wieder kommen werde oder nicht mehr für dich da sein werde." Ich umfasste sein Gesicht und strich eine Träne weg. „Ich werde immer für dich da sein, du bist mein Bruder."

Später lag ich im Bett und lauschte Amber's regelmäßigen Atemzügen. Dad hatte sich schon vor einer Stunde hingelegt und Dave hatte ich nach unserem Gespräch nicht mehr gesehen. Der Mond schien durch das Fenster und Amber sah in diesem Licht wie eine Elfe aus. Heute war es knapp gewesen, die Anzeichen waren vorher da, doch ich hatte sie ignoriert. Allgemein schien ich gut darin geworden zu sein meine Augen zu verschließen. Dave hatte schon länger Probleme in der Schule und kam mit dem Stoff nicht hinterher, das war nichts neues. Nur hatte ich keine Ahnung, wie ich das noch schaffen sollte, wenn ich die Schichten im Sage aufstockte, was ich zwangsläufig musste um die Krankenhausrechnung zu bezahlen. Meine Gedanken wurden von dem öffnen der Tür unterbrochen. Dave huschte herein, in seiner Hand seine Decke und sein Teddy. Leise schlich er zu Amber und setzte ihr den Bären ins Bett. Dann kam er auf Zehnspitzen zu mir. „Kann ich bei dir schlafen?", fragte er leise.

Statt einer Antwort rutschte ich zur Seite um ihn Platz zu machen. Dave legte sich auf den freigewordenen Platz und ich legte meinen Arm um ihn. „Was ist denn mit Mr. Bear?"

„Sie braucht ihn mehr als ich." Dave drehte sich zu mir. „Weißt du Avi, da ist die Wut in mir und ich weiß das es ungerecht ist, aber ich kann nichts dagegen machen." Ich strich über sein Gesicht, näher würde er einer Entschuldigung nicht kommen und das musste er auch nicht. Denn wenn ich etwas verstehen konnte, dann war es seine Wut.

„Du hast jedes Recht wütend zu sein, mach dir deswegen keine Vorwürfe. Ich bin es auch." Seine Augen weitenden sich, das Mondlicht spiegelte sich in dem weißen seines Auges wieder.

„Du?!" Ich zuckte mit den Schultern. Dave öffnete seinen Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Schließlich drehte er sich um und kuschelte sich an mich. „Ich hab dich lieb Ava.", nuschelte er, während er die Decke fester um sich zog.

„Ich dich auch Davie." Murmelte ich und küsste seine Haare. Dave sollte sich mit 14 Jahren nicht mit solchen Problemen herumschlagen müssen. Manchmal war es so leicht zu vergessen, dass Dave im Endeffekt noch ein Kind war. Mein kleiner Bruder, der Nachts in mein Bett geschlichen kam, weil er nicht schlafen konnte. Mein kleiner Bruder, der mich auch brauchte.

*

Das Geräusch einer knarrenden Tür die sich öffnete ließ mich aufwachen. Meine Augen brauchten ein Moment um sich an die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, zu gewöhnen. Dad's Konturen wurden schärfer und ich erkannte das Lächeln im seinen Gesicht. Dave schlief ruhig neben mir, Amber hatte sich Nachts zur Wand gedreht und man hörte ihr regelmäßiges Atmen.

„Wie lange ist das schon her?", flüsterte Dad. Ich grinste. „Ich habe die Bewerbung fertig, kannst du sie dir angucken?" Ich lächelte ihn an und sah auf die Uhr. 11 Uhr, das war eine ungewöhnlich späte Zeit für mich, allerdings war es auch eine ungewöhnliche Nacht. Vorsichtig schlüpfte ich unter der Decke weg, nur um möglichst leise das Bett zu verlassen. Ich zuckte zusammen, als die kalte Holzdiele unter mir knatschte. Erschrocken hielt ich inne und versicherte mich, dass keiner der beiden geweckt wurde. Dann folgte ich auf Zehnspitzen Dad aus meinem Zimmer und wir gingen nach unten. „Ich mache dir Frühstück.", sagte Dad und verschwand in die Küche. Töpfe klapperten, Dad fluchte und ich war mehr als unsicher ob es eine gute Idee war, Dad alleine zu lassen.

Dad und die Küche standen in ein sehr Widerspenstigen Verhältnis zu einander: Es lief mal gut, mal brauchten wir eine neue Mikrowelle. Unsicher nahm ich vor dem Laptop Platz. Als immer noch nichts knallte, fing ich an seine Bewerbung durchzuschauen. Sie wies einige Fehler auf, aber das überraschte mich nicht, denn Dad war eher ein Macher als ein Denker. Schnell korrigierte ich einige Aussagen und schrieb sie um. Trotzdem würde es schwierig werden, dass Dad den Job bekam. Liams ‚Angebot' kam mir in den Sinn, sofern man es als solchen bezeichnen konnte. Es war abstoßend, erniedrigend und in jeder Hinsicht unverschämt. Meine Abneigung gegen ihn stieg dadurch um ein vielfaches, im Endeffekt aber passte es aber zu ihm. Aber wenn er wirklich sein Wort hielt und Dad den Job bekam, dann wäre Amber am besten geholfen und wir hätten einige Sorgen weniger. Aber konnte ich das wirklich? Konnte ich wirklich mit jemanden schlafen, für den ich nichts als Verachtung über hatte und mich dann noch im Spiegel anschauen? 3 Monate konnten eine Lange Zeit sein.

Aber Amber hatte keine Zeit mehr. Meine Gedanken kreisten weiter, die Bewerbung hatte ich längst vergessen. Erst als Dad mit Pancakes zu mir kam, hörte ich auf darüber nachzudenken. Gott ich zog das doch nicht wirklich in Erwägung? Dad ließ sich gegenüber von mir nieder und schob mir ein Teller zu. „Und?", fragte er gespannt.

Ich nahm den Teller und klappte den Laptop zu. „Ganz gut, habe ein paar Sachen berichtig, aber im gesamten echt gut." Dad strahlte mich freudig an. Meine Eltern waren noch ziemlich jung, Dad war gerade fertig mit der Highschool und Mum kam in das letzte Jahr als sie erfuhren, dass sie schwanger war mit mir. Ich glaube die beiden waren nie bereit dafür Eltern zu sein, Dad war selbst ein Kind und Mum hatte ganz andere Pläne mit ihrem Leben. Stattdessen saß sie zuhause und hatte ein Baby zu versorgen während Dad nicht auf das Collage ging, sondern direkt das Arbeiten anfing um uns zu ernähren. Ich hatte schnell gelernt auf eigenen Beinen zu stehen und wenig Erwartungen an meine Eltern zu haben. Nicht das sie mich nicht liebten, aber sie waren für Kinder nicht gemacht. Klar nach Dave hatten sie so eine Ahnung wie das Spiel lief, aber verstanden hatten sie es bis heute nicht. Mum war nicht mehr da und Dad heillos überfordert. Manchmal kam es mir vor, als wäre er das Kind und ich die Mutter. „Ich gehe nachher zu Apotheke um die Medikamente abzuholen." Er nickte und eine grau durchzogene Strähne fiel in sein Gesicht.

„Alles klar, ich halte hier die Stellung." Diesmal nickte ich und schweigend aßen wir weiter. Wir sprachen nicht über das was letzte Nacht passiert ist. Darüber zu sprechen würde es real machen und Dad lebte lieber in einer Illusion statt in der Realität. Mein Handy klingelte in meiner Tasche. Ich hatte sie gestern wohl vergessen auszuräumen.

Wie geht es Amber?- Jake

Ganz ok, sie schläft. Ich hole nachher die Medikamente ab und dann sehen wir weiter.- Ava

Soll ich dich fahren?- Jake

Mein Herz schlug unwillkürlich schneller. Hastig schrieb ich zurück. Quatsch, dass konnte ich so nicht schreiben. Mein Finger drückte die löschen Taste und ich fing von vorne an.

Das wäre nett, wann könntest du denn?- Ava

In einer halben Stunde hole ich dich ab.-Jake

Weißt du denn wo ich wohne?- Ava

Ich weiß vieles ;) – Jake

Woher wusste er wo ich wohne? In einer halben Stunde, also um 12 Uhr. „Was grinst du denn so? Hat das was mit dem jungen Mann von gestern zu tun?" Die Neugierde war nicht zu überhören. Ich streckte Dad die Zunge raus und er hob mahnend den Finger. „Junges Fräulein, so aber nicht."

Ich schnaubte. „Ernsthaft Dad? Ich schreibe unsere Steuererklärung," Dad drehte aber gespielt den Kopf zur Seite und hob seine Nase hoch. Lange hielt er das nicht aber aus und wir verfielen in Lachen. Manchmal war ich überrascht wie leicht es sein konnte.

DeliriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt