Kapitel 5 - Mänaden und Nyx - Part 2

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Circa eine Stunde später befand sich Leya mit einem Rucksack, der alles von Vaporettofahrkarte bis Thermoskanne enthielt, im ehemaligen Venediger Ghetto. 

Sie lief wie all die anderen Touristen, die durch die Straßen wandelten, verwirrt umher. Das Mädchen hatte bereits zu viele kleine Gassen und größere Brücken beschritten um noch zu wissen, wo sie sich befand. Irgendwann ließ sie sich vor einem geschlossenem Spielzeugshop in einer Unterführung nieder. Diese Unterführung bestand, weil ein Haus darübergebaut war. Leya lehnte sich in einer Wandöffnung sitzend gegen die Säule und starrte auf das schwarze Wasser. Eine alte Gondel lag darin und war halb vom Lagunenwasser überschwemmt.

Venedig war schön. Unzählige Gebäude waren halb verfallen, aber standen dennoch wie Herrscherinnen über dem Wasser. Die Spiegelungen lächelten ihren Besitzern zu. 

Leya fröstelte und vergrub sich selbst tiefer in ihrer Winterjacke. Stille hing über dem Wasser wie Morgennebel. 

„Guten Tag, meine Liebe." Phans Stimme hallte zwischen den Häuserwänden wider. Heute war er ein er. Derselbe er wie gestern. Leya stellte das fest, als er plötzlich neben ihr auftauchte. Die blonden Haare schimmerten im Licht. 

„Hallo." murmelte sie und starrte weiter in das halbversunkene Boot. Ohne zu fragen ließ sich Phan ihr gegenüber in der scheibenlosen Fensterspalte nieder und meinte leise: „Ich sehe, du hast Dionysos getroffen."

„Als ob du das nicht schon wusstest." Jeder wusste alles über sie. Jeder wusste mehr über sie, als sie selbst. 

„Hat er dir erklärt, was es mit den Nyxtänzen auf sich hat?" 

Sie schüttelte den Kopf. 

„War ja klar, dass er das mir überlasst." Der junge Mann lachte leise. „Also..."

Leya nahm keine Worte mehr aus seinem Mund wahr. 

Die Töne ertranken in ihrem Verstand. Alles schwirrte und Stimmen schrien. 

„Kannst du ihn auch sehen?"

„Was?" verwirrt hob Leya ihren Blick und musterte Phan, der auf das Boot nickte.

„Den Mann. Kannst du ihn auch sehen?"

„Welchen Mann?" Ihre Augen wanderten zurück zu dem halbüberschwemmten Boot, das wohl demnächst Teil des Meeres werden würde. 

„Das nehme ich als ein Nein." erwiderte Phan mit einem traurigen Lächeln.

„Wieso... Wer ist dieser Mann?" murmelte Leya und ließ ihren Blick über Phans Gesicht streifen. 

„Ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nur, was er ist." Phan starrte in das Boot. „Er ist eine der Seelen, die Charon nicht mit über den Acheron genommen hat. Solche Seelen bleiben auf unserer Erde an Orten, die sie zu Lebzeiten besucht haben. Meistens bleiben sie an Orten, die dafür gesorgt haben, dass sie den Fluss nicht überqueren können. Charon will eine Bezahlung, weißt du? In der Antike hat man den Verstorbenen den Charonspfennig unter die Zunge gelegt. Wir tun das heute noch immer, aber die meisten Menschen müssen anders bezahlen. Ich weiß nicht, wie diese Bezahlung aussieht, vielleicht sind es Erinnerungen, aber manche können sie nicht geben. Diese Seelen werden niemals weiterziehen. Ich kann sie sehen. Manche deutlicher, als andere..."

Kurz legte sich Schweigen zwischen sie. 

„Du bist nicht allein in deiner Welt, Leya. Es gibt so viele von uns... Wir verstehen dich, glaub mir." Seine Stimme war leise und er blickte ihr nicht in die Augen, als er erklärte: „Ich sehe die Seelen, weil ich ein Charonskind bin. Ich kann – wie du – lernen in die Unterwelt hinabzusteigen. Meine Vorgänger und ich können Seelen von der einen Seite der Unterweltflüsse auf die andere bringen. Wir kommen unbeschadet davon. Das Wasser tut uns nichts..." Er atmete tief durch und schluckte. „Die Meisten meiner Art sterben früh und allein."

„Wieso..." stotterte sie, bevor sie unterbrochen wurde.

„Wieso ich noch lebe? Willst du das fragen?" Leya wollte es nicht zugeben, aber der Blonde hatte recht.

„Ich bin nicht nur ein Charonskind, sondern auch ein Morpheussohn. Ich bin noch nicht verzweifelt, weil ich mehr als ein Mensch bin. Jedes Mal, wenn ich einer anderen Person nahe komme, töte ich die Seite, die sie kennt. Du musst verstehen, die Götter machen Jagd auf Menschen wie uns. Sie wollen uns derartig in die Verzweiflung treiben, dass es uns egal ist, was für folgen unsere Taten haben." Seine Stimme wurde dunkel und sein Blick zornig. „Sie werden so lange jeden unserer Lieben jagen, bis wir in die Unterwelt steigen und versuchen sie mit uns nach oben zu ziehen. Götter interessieren sich nicht für das Wohl der Sterblichen. Sie wollen nur einen Weg finden um ihre Lieben wieder nach oben zu holen. Sie wollen Hades vernichten und die Seelen auf die Welt loslassen. Sie wollen das zurück, was sie denken verloren zu haben. Du hast sicherlich dieselbe Rede von Dionysos gehört, wie ich. Nach ihnen sind wir an ihrem Sturz Schuld. Nach ihnen müssen wir unsere Schuld büßen und ihnen helfen. Aufsteigen können sie nicht mehr. Ihnen bleibt nur noch die Erde. Der Olymp ist verschlossen. Und deshalb töten sie und quälen und betteln und tun alles dafür einen Weg in die Unterwelt zu finden." Phans Gesichtszüge verzogen sich in eigenartigen Wellen, während er sich in Rage redete. „Wenn wir einen retten, dann müssen wir es mit allen tun, Leya. Die Götter werden vernichten bis sich Seelen an den Ufern des Acherons Stapeln und Charon niemals alle auf die andere Seite führen kann. Sie werden dafür sorgen, dass die Welt leer ist. Und dann, dann werden sie ihre Geliebten aus der Unterwelt ziehen. Sie werden uns in den Hades folgen und jeden einzelnen Toten, der ihnen etwas bedeutet aus der Hölle ziehen und auf die Welt stoßen. Egal, wer von uns die größte aller Sünden begeht, Hades wird nichts gegen seine Götterbrüder tun können. Er wird zusehen müssen, wie sie seine und unsere Welt zerstören, weil wir ihnen helfen werden, helfen müssen. Wenn wir eine Seele retten, dann bleibt es nicht bei einer." Seine Haut flackerte und wurde gräulich, eingefallen. Man konnte Knochen unter dem Menschenleder erkennen und gelbe Zähne blitzten auf, als das Charonskind sprach: „Du musst verstehen, Leya. Wir sind das Verderben. Und wir können nichts dagegen tun, außer zu scheitern."

Sobald Phan seinen Monolog beendete, schwand das Wesen, das unter seiner Haut lag. Es blieb der junge, blonde Mann mit den funkelnden Augen. 

Er räusperte sich. 

„Jedenfalls, um noch einmal auf die Nyxtänze zurückzukommen: Der Fleck auf deinem Arm wird größer werden und eine Adresse zeigen. An dem Tag an dem das geschieht, findet der Tanz statt. Du musst gehen, denn die Farbe breitet sich aus und hat... nun ja, keine sonderlich schönen Folgen. Die Adresse wird nur erscheinen, wenn Dionysos dich auf der Feier haben will. Genau... Mehr gibt's dazu eigentlich nicht zu sagen. Abendessen gibt's heute um Sechs." 

Nach seinem Ausbruch fühlte Phan sich offensichtlich unwohl. Er schenkte Leya ein schräges Lächeln, sprang von der Mauer und lief winkend zur nächsten Brücke. Augenblicke später war er zwischen den engstehenden Häusern verschwunden.

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Song:

Preacher - One Republic

Götterstimme - Lieder der UnterweltWhere stories live. Discover now