Erstes Kapitel

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„Seele ist die Heimat allen Lebens

Dieses sag' ich unumwunden

Alles Suchen ist vergebens

Hat man Heimat nicht in sich gefunden." – Robert Kroiß

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Wenn man kurzerhand beschließt, seinen Heimatort freiwillig zu verlassen, dann überkommt einen normalerweise ein Gefühl der Euphorie und Neugier. Bei mir war das nicht so. Ich war keineswegs euphorisch, als ich in dem Zug nach Braxton saß. Und für Neugier fehlte mir schlichtweg die Euphorie. Eigentlich wollte ich nicht wirklich nach Braxton. Doch was ich wollte, war Mayfield zu verlassen. Dass es mich letzten Endes nach Braxton trieb, war nebensächlich. Der springende Punkt war, Mayfield für ein und allemal den Rücken zuzukehren. Einen Neuanfang zu wagen, wie man so schön sagt.

Es war mir einfach alles zuwider geworden. Zu viele Erinnerungen überfluteten mich in Mayfield an jeder Ecke. In jeder Gasse spiegelte sich mein erbärmliches Leben wider, auf jedem Platz wurde ich von den Blicken der anderen bloßgestellt. Sie waren wie Dornen, die sich langsam in mein Fleisch bohrten. Dabei hatten sie doch keine Ahnung.

Vielleicht lag es daran, dass ich dort zu viele Leute kannte. Zu viele Leute kannten mich, besser gesagt. Sie waren für mich weder Vertraute noch Freunde. Doch in so einem kleinen Ort kannte jeder jeden. Zumindest vom Sehen auf der Straße. Jeden Tag grüßten mich die Menschen beim Einkaufen, setzten ihr schönstes Lächeln auf. Aber sobald ich mich wegdrehte, hörte ich ihre Stimmen, spürte ihre Blicke, vernahm ihre Gedanken. Wie sie tuschelten, mich anstarrten und ihre Köpfe schüttelten. Ich wusste, dass sie es nicht aus Gehässigkeit taten. Sie machten es aus Mitleid. Und diese Erkenntnis war noch schlimmer.

So kam es, dass ich wegzog. Der Gedanke existierte zwar schon etwas länger in meinem Kopf, doch bis vor kurzem war es nur ein Hirngespinst gewesen. Ein sehnlicher Wunsch, der niemals in Erfüllung gehen würde. Von einer Sekunde auf die andere änderte sich dies jedoch schlagartig. Ich stand am Fenster in meiner Küche, wartete auf meinen Kaffee und rauchte währenddessen eine Zigarette. Mein Blick wanderte hinunter auf die Kreuzung und ich erkannte Misses Laine, die ihre Kinder gerade von der Schule abgeholt hatte und sie an den Händen packte, um mit ihnen über die Straße zu gehen; Misses Wright, die ihren Hund täglich um halb sechs ausführte; Mister Cunningham, der wie jeden Dienstag in sein Lieblingslokal, ein altes Pub, ging, um sich Sparky's Spareribs zu bestellen; Miss Bendrose, die gerade mit ihrem Pick up zur Abendmesse fuhr, und der alte Harold, der grimmig von der gegenüberliegenden Wohnung zu mir hinüberschaute. Ich starrte in die Augen des Mannes, sog das Nikotin tief in meine Lungen und wusste mit einem Mal, dass ich verschwinden würde. Und zwar diese Woche noch.

Am nächsten Tag suchte ich nach Wohnungen. Da ich über keinen Computer verfügte, ging ich zur Bücherei. Dort war es ruhig und ich konnte mich ungestört meinem Vorhaben widmen. Sehr wohl fühlte ich mich nicht, denn auch, oder vielleicht gerade dort brannten die Blicke unter meiner Haut besonders. Das lag vermutlich daran, dass ich die Bücherei kaum besuchte. Die Leute wunderten sich eben. Ich hatte noch nie wirklich das Bedürfnis, mich in einem Raum voller Bücher aufzuhalten, die mehr Leben besaßen als ich. Außerdem mochte ich es einfach nicht, zu lesen. Es war viel zu anstrengend für mich. Auf Dauer konnte ich mich nicht so lange konzentrieren und nach den ersten Kapiteln gab ich meistens auf. Deswegen fing ich gar nicht erst an.

Es war nicht sehr viel Zeit vergangen, da hatte ich schon einen Treffer. 1-Zimmer-Wohnung, Bad, WC extra, möbliert, sofort bezugsfähig, 379$/Monat, gelegen in Braxton. Es war nicht perfekt, doch erschien mir als ausreichend. Der Preis war wie zu erwarten hoch, doch ich hatte schon seit meiner Kindheit immer ein bisschen Geld weggelegt. Mit diesem Ersparten könnte ich die Miete ungefähr ein Jahr bezahlen, wenn man noch einen Teil für Essen und Kleidung beiseiteschieben würde. Ich schrieb den Mieter an und bekam eine Zusage. Gleich am folgenden Montag könne man sich treffen und den Vertrag unterschreiben, hatte er mitgeteilt. Mr. Mitchell versicherte mir außerdem, dass ich sofort danach die Schlüssel überreicht bekäme. Eigentlich hatte ich vor, Mayfield spätestens am Sonntag zu verlassen, doch Mr. Mitchell war am Freitag schon anderwärtig beschäftigt und am Wochenende wollte er seine Ruhe. Das war nachvollziehbar. Montag war gut genug. Für einen kurzen Moment packte mich ein Glücksgefühl. Ich hatte es tatsächlich geschafft. In fünf Tagen würde ich für immer weg sein. Und so wie dieses magische Kribbeln in meinem Körper gekommen war, verschwand es auch wieder. Fünf Tage waren eine verdammt lange Zeit. Es waren 120 Stunden, die ich irgendwie überbrücken musste.

Perception - Wie siehst du die Welt?Where stories live. Discover now