Prolog

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„Große schwarze Müdigkeit senkt sich auf mein Leben;

Schlaf nun, all mein Hoffen,

schlaf, all mein Begehren." – Paul Verlaine

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Nach dem Tod ist alles anders. Du siehst anders, du hörst anders, du fühlst anders. Deine ganze Wahrnehmung verändert sich. Ich kann es nicht beschreiben oder in Worte fassen. Es geht weit darüber hinaus. Du spürst es einfach. Und dann weißt du es. Dir wird plötzlich bewusst, wie viel dir entgangen ist. Wie viel du verpasst oder für unbedeutend gehalten hast. All diese Hinweise, die dir in deinem Leben auf den Weg gelegt wurden, hast du missachtet. Du warst zu blind, um das Leben in dir zu sehen. Warst so ohne Empfindungen, dass du das Blut in deinem Mund nicht mehr geschmeckt hast, als du gegangen bist. Dass du den unendlichen Schmerz nicht mehr gefühlt hast, der dich zurückholen sollte.

Als Lebender warst du schon längst tot. Außen hattest du eine Hülle, doch innen war alles leer. Jetzt hast du keine Hülle mehr, die dich vor der Wahrheit schützt. Du bist gestorben. Aber gerade diese Gewissheit lässt dich endlich aufatmen. Es ist vorbei. Du bist frei. Die Fesseln des Daseins lösen sich. Mit einem Mal überkommt dich ein Gefühl. Sprache reicht nicht aus, um es benennen. Dein immer weiter schwindender Körper schafft es nicht, es zu ergreifen. Die Hülle fällt. Du denkst alles, und nichts zugleich. Aber dieses Gefühl ist immer noch da. Du spürst es. Du willst auf keinen Fall, dass es jemals vergeht.

Deine ganzen Ängste und Zweifel, deine Sorgen und dein Kummer sind wie weggeblasen. Stattdessen ballen sich alle Emotionen in dieses eine Gefühl. Du findest heraus, dass jeder Affekt einen Ursprung hatte: die Wahrnehmung. Erst durch deine Eindrücke wurde ein zerrissenes Bild zu einem Resultat eines Wutausbruchs, eine Träne zu einem Zeichen der Trauer und des Schmerz, ein Kuss zu einem Glücksmoment. Aber dieses Gefühl kannst du damit noch immer nicht erklären. Du weißt nur, dass es auf deine Wahrnehmung ankommt. Doch eigentlich nimmst du gar nichts mehr wahr. Du bist tot.

Alles um dich herum ist plötzlich träge und du willst dich einfach nur ausruhen. Der Tod ist eine anstrengende Phase und du spürst die Ermattung. Du bist schon für immer eingeschlafen und doch warst du noch nie so müde. Trotzdem ist da dieses undefinierbare Gefühl in dir. Es macht das Ende ertragbarer. Es lässt dich in eine Feder verwandeln, die im Wind zu schweben glaubt.

So fühlt sich das Sterben an. Wie ein Obdachloser, der nach Wärme bittet. Wie ein Kranker, der nach Heilung strebt. Wie ein Gefangener, der nach Freiheit schreit. Dein sehnlichster Wunsch wird endlich wahr. Zugleich bezahlst du auch den höchsten Preis dafür: dein Leben. Sobald du dich der Versuchung hingegeben hast, gibt es kein Zurück mehr. Doch dein Leben war sowieso nicht mehr lebenswert. Es hatte seinen Reiz verloren. Vielleicht hast aber auch nur du deinen Reiz verloren, nicht das Leben. Du hast deine Wahrnehmung unterdrückt. Du hast aufgehört, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Anstelle dessen hast du dich mit einem starren Blick so fixiert, dass du dir selbst eine Falle gestellt hast. Ständig hast du nur diese eine Momentaufnahme von dir im Kopf gehabt, die alle anderen Augenblicke überdeckte. Statt einer Person mit Tiefe hast du nur ein leeres Blatt Papier gesehen, das verzweifelt versuchte, eine Gestalt zu bilden. Doch anders funktionierte deine Wahrnehmung nicht. Sie war zweidimensional und ließ nicht mehr zu.

Aber jetzt ist deine Hülle verschwunden. Du bist wie eine Feder und spürst dieses Gefühl. Du wiegst dich in dessen Wärme, dessen Heilung, dessen Freiheit. So lange, bis du vergisst. Wieder einmal lässt du etwas Wesentliches außer Acht. Das Gefühl ist auf einmal nicht mehr so stark wie zuvor. Du wirst schwerer. Und müder. Du wolltest dieses Gefühl nicht verlieren und jetzt scheint es dir aus den Fingern zu gleiten. Du klammerst dich noch an dem letzten Funken fest, dann erlischt es. Du fühlst dich einsam und wirst von Dunkelheit umhüllt. Die Sehnsucht ist so groß wie noch nie zuvor, doch du hast nichts mehr, um es einzutauschen. Nicht einmal mehr dein Leben.

Perception - Wie siehst du die Welt?Where stories live. Discover now