7. Kapitel

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Elena

Der Schrei ließ mich zusammenfahren und ich löste mich von Liam. Ich rannte in das Schlafzimmer meiner Mutter.
Sie lag schweißgebadet in ihrem Bett. Ihre Augen waren geschlossen und sie schlug wild um sich. Ich setzte mich zu ihr und versuchte sie zu wecken.
Liam drängte sich an mir vorbei und rüttelte an ihren Schultern.

Da öffnete sie die Augen und atmete tief ein. Überrascht sah sie uns beide an. Dann schien sie zurück in die Realität zu kommen und ihre Atmung beruhigte sich etwas.
Sie schien unsere sorgenvollen Blicke zu bemerken. "Ich hatte nur einen Albtraum. Mir geht es gut", sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen.
Liam verschwand im Bad und kam wenige Sekunden später mit einem feuchten Lappen zurück. Er tupfte Mum sanft das Gesicht ab und sie entspannte sich etwas.
Dann sah er mich an und strich mir über die Wange. "Ich kümmere mich um sie, geh ruhig schlafen", sagte er liebevoll und küsste mich auf die Stirn. Ich nickte und ging in mein Zimmer.

Dort legte ich mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Ich machte mir wirklich Sorgen um Mom. Ihre Albträume schienen immer schlimmer zu werden und sie zog sich immer mehr zurück. Aber ich wusste nicht wie ich ihr helfen konnte.

Da hörte ich Liams Stimme gedämpft durch die Wand. Er schien beruhigend auf Mom einzureden. Dann hörte ich wie er in sein Zimmer ging.
Ich musste an seine Worte denken. Er hatte seine Beziehung mit Melanie beendet. Es beunruhigte mich etwas, dass mich diese Tatsache freute. Es hatte mir weh getan die beiden zusammen sehen zu müssen. Aber was war sein Beweggrund mit ihr Schluss zu machen?
Sein Handeln würde jedoch auch Folgen nach sich ziehen. Das System würde ihn für sein Vergehen bestrafen. Ich spürte wie mein Körper begann zu zittern bei diesem Gedanken. Die Angst Liam zu verlieren breitete sich in mir aus.
Ich versuchte mich zu beruhigen, aber es gelang mir nicht.

Leise stand ich auf und tappte in den Flur.
Als ich vor Liams Zimmertür stand zögerte ich.
Doch dann drückte ich vorsichtig die Türklinke nach unten und öffnete langsam die Tür. Durch den offenen Türspalt drang etwas Licht in das dunkle Zimmer.
Liam setzte sich auf und sah mich an. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel und er klopfte neben sich auf die leere Bettseite.
Ich trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Dann ging ich zum Bett. Liam hielt seine Bettdecke hoch, so dass ich darunter schlüpfen konnte. Ich legte mich zu ihm und er deckte mich zu.

Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er strich mir über die Wange und sah mir in die Augen. "Was ist los?", fragte er besorgt.
Ich war schon früher als kleines Kind immer zu ihm gekommen wenn mich etwas bedrückte und er sah es mir immer an wenn etwas nicht stimmte.
"Ich habe Angst vor deiner Strafe für dein Vergehen. Das System wird darüber nicht einfach hinweg sehen", sagte ich mit zitternder Stimme.
"Du brauchst dir um mich keine Sorgen machen", sagte er beruhigend und strich mir durchs Haar. Er legte seine Arme um mich und ich kuschelte mich an ihn. Meinen Kopf vergrub ich an seinem Shirt und er küsste mich aufs Haar.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte war Liam verschwunden.
Ich stand auf und sah mich im Haus um. Aber ich konnte ihn nirgends finden.
Wo konnte er an einem Samstagmorgen sein?
Das Wochenende stellte die Gesellschaft zur Erholung zur Verfügung.
Jeder Bürger durfte selbst entscheiden wie er diese Tage verbrachte.
Es war untypisch für Liam am Wochenende zu dieser Uhrzeit weg zu sein.
Da fiel mein Blick auf eine zerschlagene Tasse auf dem Küchenboden.
Ich schluckte und versuchte ruhig zu bleiben. Aber es gelang mir nicht.
Die Schutzmänner mussten ihn geholt haben um ihn zu bestrafen.
Ich versuchte ruhig zu atmen aber das Gegenteil trat ein. Mein Atem ging stoßweise und mein Körper zitterte.
Langsam ging ich zur Couch und setzte mich. Ich zog meine Beine zur Brust heran und legte meinen Kopf darauf. Tränen liefen mir über die Wangen und mein Körper bebte.
Da hörte ich wie sich die Schlafzimmertür meiner Mutter öffnete.
Wenige Sekunden später spürte ich wie jemand seine Arme um mich legte und mich an sich heran zog.
"Elena?", fragte sie besorgt und strich mir übers Haar.
Ich wollte sie in ihrem Zustand nicht noch mehr beunruhigen und entschied mich dafür ihr nichts von Liams Strafe zu erzählen bevor ich mir nicht sicher war.
Ich hob meinen Kopf, wischte mir die Tränen von den Wangen und lächelte sie an. "Alles gut", sagte ich mit fester Stimme und stand auf.

Ich räumte die Scherben vom Boden und füllte meine Essensration mit in die Schale meiner Mutter. Ich hatte keinen Hunger und Mom würde das zusätzliche Essen sicher gut tun. Dann verschwand ich im Bad und stieg unter die Dusche.
Ich versuchte meine Gedanken mit dem Dreck von meiner Haut zu spülen, aber es funktionierte nicht.
Als ich aus der Dusche stieg klingelte es an der Tür. Ich wickelte mir schnell ein Handtuch um und eilte zur Tür.

Liam

Doch als ich die Tür öffnete blickte ich nur in das freundliche Gesicht des Postboten. Enttäuscht nahm ich das Paket entgegen.
"Guten Morgen Elena. In dem Paket ist deine neue Alltagskleidung. Da du die Schule erfolgreich abgeschlossen hast bitten wir dich deine Schuluniform abzugeben und deine neue Kleidung zu tragen"
Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. Dann schloss ich die Tür und zog die neue Kleidung an.
Da ertönte ein Signal aus der Kommandozentrale.
Wichtige Meldung vom Präsidenten, stand auf dem Bildschirm. Es war äußerst selten vom Präsidenten zu hören. Es schien wichtig zu sein.

Dann schlug das Bild um und der Präsident erschien.
Seine dunkelbraunen Haare waren ordentlich gekämmt und seine eisblauen Augen auf die Kamera gerichtet. Er stand an einem Pult und stützte seine Hände daran ab.
"Liebe Bürger und Bürgerinnen. Ich habe eine sehr wichtige Änderung unseres Systems mitzuteilen. Deshalb bitte ich sie alle Familienmitglieder vor der Zentrale zu versammeln und aufmerksam zuzuhören." Dann machte er eine Pause um sicherzugehen dass alle Bürger an der Ansprache teilnahmen.
Ich hörte wie Mom in die Küche kam und sich mit mir vor den Bildschirm stellte. Wenige Sekunden später begann der Präsident wieder zu sprechen:

"Unsere Gesellschaft ist immer auf das Wohl unserer Bürger bedacht.
Unser System wurde dafür erschaffen jedem Menschen ein gutes Leben bieten zu können.
Vor unserer Gesellschaft gab es Armut, Rassismus, Ungleichheit, Morde...es ist eine endlose Liste. Unser System steht für Gerechtigkeit und Zusammenhalt.

Um unseren Bürgern das bestmöglichste Leben bieten zu können, arbeiten wir ständig am System. Beheben kleine Fehler, führen neue Regeln ein.
Da unser System jedoch beinahe perfekt ist, kommt es selten zu gravierenden Änderung unserer Gesellschaft.

Heute jedoch habe ich die Ehre Ihnen eine grundlegende Veränderung am System mittzuteilen.
Seit fünfzehn Jahren, wurde den Bürgern vorgeschrieben welchen Beruf Sie auszuüben hatten. Der Beruf richtete sich nach dem jeweiligen Sektor in dem man lebte.
Diese Regel funktionierte am Anfang relativ gut.
Unser System besteht aus acht Sektoren. Jeder Sektor hat bestimmte Leistungen an die Gesellschaft zu erbringen. Diese können nur erfüllt werden wenn in diesem Sektor zwei Arten von Berufen ausgeführt wird. Ein Beruf für die Männer und einer für die Frauen.
Bis zum heutigen Tage musste jeder Bürger den Beruf von seinem Sektor erlernen.

In einer langen Ratssitzung sind wir allerdings zu dem Entschluss gekommen, dass dieses Gesetz eher schädlich für die Bürger ist.
Wir können viel bessere Ergebnisse erzielen, wenn jeder Bürger den Beruf erlernt für den er am besten geeignet ist.

Ab dem heutigen Tage werden die Schüler nach ihrem Schulabschluss einen Eignungstest durchführen. Das Ergebnis des Tests ist entscheidend für den Beruf. Die Tests werden gründlich ausgewertet und dann erhält der Bürger seinen passenden Beruf.
Dadurch werden viele Schüler nach ihrem Abschluss in einen anderen Sektor versetzt.
Um den Umzug kümmert sich das System.

Ab nächstem Jahr wird der Paarungsball erst nach dem Eignungstest durchgeführt werden, damit die Bürger wieder aus dem gleichen Sektor kommen.

Die diesjährigen Abschlussschüler sind die ersten die den Eignungstest durchführen werden. Ihr seit dazu verpflichtet diesen Montag um 9 Uhr am Verwaltungsgebäude zu sein. Dort werden wir mit euch den Test durchführen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Wochenende"

Meine Gedanken überschlugen sich.
Das Ergebnis des Tests würde über mein gesamtes Leben entscheiden. Ich würde höchstwahrscheinlich umziehen müssen und hier alles verlassen. Es war uns untersagt in andere Sektoren zu reisen. Ich würde Mom und Liam nie wieder sehen.
Ein Stich durchfuhr meinen Körper und ich verkrampfte mich.
Ohne ein Wort lief ich zur Tür, ließ meinen Finger scannen und rannte aus dem Haus.

Die BestimmungWhere stories live. Discover now