Alex

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Es tut gut, endlich wieder in meinem eigenen Bett zu liegen. Die Zeit im Krankenhaus hat mich beinahe vergessen lassen, wie schön das eigentlich ist. Und obwohl ich froh bin, Zuhause zu sein, bin ich nicht glücklich. Jede freie Minute denke ich an Jo. Andauernd schaue ich auf mein Handy, ob sie online ist. Und ihr Profilbild sehe ich mir nun auch schon mindestens zum zehnten Mal an. Darauf sieht sie so süß aus. Sie ist höchstens neun oder zehn und man erkennt an ihrem Gesicht noch nicht so viel von ihrer Magersucht.

Ich finde, man kann zwar eindeutig erkennen, dass das Jo ist, doch irgendwie sieht sie ganz anders aus

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Ich finde, man kann zwar eindeutig erkennen, dass das Jo ist, doch irgendwie sieht sie ganz anders aus. Liegt das etwa alles an ihrer Magersucht? Ich wusste bisher noch gar nicht, dass sich das Aussehen da so verändert.
Ich muss ihr Bild einfach anstarren. Ihre braunen Augen sind so wunderschön und wenn ich ihre Lippen sehe, denke ich daran, wie es ist, sie zu küssen.
Hör auf, Alex!, mahne ich mich selbst. Ich darf nicht so viel an sie denken. Es war meine Entscheidung, dass ich nicht sofort wieder mit ihr zusammen sein kann, jetzt darf ich nicht schwach werden. Jo ist etwas besonderes und ich will mit ihr zusammen sein, nur noch nicht jetzt. Das wäre wohl für uns beide nicht gut.
„Alex, kommst du zum essen?", ruft Charlotte aus dem Esszimmer.
Seufzend werfe ich noch einen Blick auf Jos Foto und lege dann das Handy beiseite. „Ich komme schon!", erwidere ich und stehe auf.
Das Essen riecht wirklich lecker. Es gibt Lasagne und als Nachspeise Schokoladenpudding, mein absolutes Lieblingsessen. Da hat sich Charlotte wohl wirklich Mühe gegeben. „Das sieht ja lecker aus."
Charlotte lächelt. „Hoffentlich schmeckt es auch so. Guten Appetit."
Es schmeckt wirklich genauso gut, wie es riecht und aussieht. So ein gutes Essen hatte ich schon lange nicht mehr. Jeden Tag gab es diesen ekelhaften Krankenhaus-Fraß. Wenn ich nur daran denke, wird mir übel. Also bei dem Essen, das es dort gibt, kann ich verstehen, dass Jo lieber gar nichts isst. Und schon sind meine Gedanken wieder bei Jo. Hätte ich ihr doch verzeihen sollen? Es tut richtig weh, dass ich jetzt nicht bei ihr sein kann. Aber ich kann nicht mit ihr zusammen sein, solange ich noch sauer auf sie bin.
Ich lege mein Besteck neben meinen Teller und starre auf das Essen. Mir ist plötzlich jeglicher Appetit vergangen. Wenn zwischen Jo und mir alles wieder so wäre wie früher, würde ich dafür sogar den Krankenhaus-Fraß essen. Doch jetzt habe ich nicht einmal Hunger auf das leckere Essen, das vor mir steht.
„Schmeckt es dir nicht?", fragt Charlotte und mustert mich forschend. „Du bist ja so blass. Ist alles in Ordnung?"
Mein Vater lacht. „Alex muss sich wohl erst wieder an das gute Essen gewöhnen."
Ich versuche auch, zu lachen, aber es will mir nicht so recht gelingen. In meinem Kopf spuken einfach immer noch die Gedanken an Jo umher.
Charlottes Gesichtsausdruck wirkt sehr besorgt. „Dir liegt doch was auf dem Herzen, oder nicht? Ist es wegen Jo?"
Beim Klang ihres Namen sehe ich abrupt auf. „Ich vermisse sie eben", erkläre ich.
Charlotte runzelt die Stirn. „Aber ihr seid doch gar kein Paar mehr, oder?"
Ich seufze. „Eher nicht. Es ist ziemlich kompliziert."
Mein Vater verdreht die Augen. „Frauen sind doch immer kompliziert, ist es nicht so?"
Charlotte wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich mach dann mal den Abwasch." Sie deutet Papa an, mitzukommen.
„Ich helfe dir", sagt er schnell und folgt ihr in die Küche.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie über mich reden, doch ich kann nichts hören. Also gehe ich näher zur Küchentür. Nun kann ich einigermaßen verstehen, was sie sagen.
„Du solltest dich nicht darüber lustig machen", schimpft Charlotte. „Merkst du denn gar nicht, wie abwesend Alex in letzter Zeit ist?"
„So sind Teenager eben", entgegnet Papa. „Das ist doch nichts ungewöhnliches."
„Nein, das nicht. Aber normalerweise gibt es bei Jungen in dem Alter einen bestimmten Grund", erklärt sie, „und der hat nicht selten etwas mit einem Mädchen zu tun."
Papa sieht sie ungläubig an. „Du meinst wegen Jo?" Er lacht. „Das ist doch nur eine Schwärmerei, nicht mehr."
Eine Schwärmerei also? Na vielen Dank auch! Nie werde ich von meinem Vater ernst genommen! Das macht mich so wütend!
„Weißt du denn gar nicht mehr, welche Angst sie um Alex hatte, als er operiert wurde?"
Papa seufzt. „Kinder bilden sich oft ein, dass etwas ernster ist, als es tatsächlich ist."
Ein Kind bin ich jetzt also? Ich bin fünfzehn! So wie Papa das sagt, klingt es, als wäre ich so ein kleiner Schreihals, der alle fünf Minuten heulend zu Mami und Papi rennt!
„Es bringt überhaupt nichts, mit dir zu diskutieren!", regt sich Charlotte auf. „Letztendlich zählt ja doch nur deine eigene Meinung!"
Ich höre, wie sie mit schnellen Schritten zur Tür läuft. Schnell flitze ich die Treppe nach oben in mein Zimmer und lege mich in mein Bett. Da höre ich, wie unten die Türen knallen. Um das auszublenden, setze ich meine Kopfhörer auf und mache die Musik so laut wie es geht.
Ich fasse einfach nicht, dass Papa die Beziehung zwischen Jo und mir als Schwärmerei bezeichnet hat. Ich liebe Jo! Warum versteht er das denn nicht? Es ist nicht nur eine dumme Schwärmerei!
Aber ich bin Charlotte echt dankbar, dass sie mich verteidigt hat. Langsam habe ich sogar das Gefühl, dass sie mich versteht. Vielleicht sollte ich ihr tatsächlich erzählen, was zwischen Jo und mir vorgefallen ist. Dann kann sie mir möglicherweise einen guten Rat geben.
Dann überlege ich, ob ich Jo eine Nachricht schreiben soll. Ich will, dass sie weiß, dass ich trotz allem an sie denke. Aber ich weiß nicht, was ich ihr schreiben soll. Alles, was ich mir ausdenke, klingt seltsam. Natürlich könnte ich ihr ein einfaches Wie geht's? schicken, aber das ist auch irgendwie unangemessen. Ein Ich liebe dich wäre im Hinblick auf das, was ich zu ihr gesagt habe, auch nicht klug.
Letztendlich entschließe ich mich dazu, Ich denk an dich zu schreiben. Das trifft am besten auf das zu, was ich fühle.
Es dauert nicht lange, bis Jo die Nachricht liest. Dafür dauert es umso länger, bis sie zurückschreibt. Die ganze Zeit zeigt es mir an, dass sie mir schreibt, doch ihr scheint es genauso zu gehen wie mir. Sie weiß nicht, was sie schreiben soll.
Ich auch an dich schreibt sie schließlich. Nicht besonders einfallsreich, aber ich hätte vermutlich dasselbe zurückgeschrieben.
Nun schreibe ich ihr eine etwas längere Nachricht. Nur weil ich gesagt habe, dass ich Zeit zum Nachdenken brauche, heißt das nicht, dass ich jetzt ganz auf Abstand gehen will. Also hoffe ich, dass wir ganz normal miteinander reden können. Das können wir doch, oder?
Diesmal dauert es noch länger, bis sie zurückschreibt. Was wenn sie mit nein antwortet? Ich will, dass wir normal miteinander umgehen können.
Plötzlich klopft es an meiner Tür. „Herein", rufe ich.
Charlotte kommt in mein Zimmer. „Hey", sagt sie, „ich wollte nochmal mit dir reden. Ich mache mir nämlich wirklich Sorgen um dich."
Ich runzle die Stirn. „Du musst nicht mit mir reden", entgegne ich, „ich habe euer Gespräch sowieso mitbekommen."
„Oh", meint sie, „das tut mir leid. Ich hätte nicht mit deinem Vater reden sollen."
„Zumindest weiß ich jetzt, was er von mir hält", erwidere ich.
„Er meint es nicht so", versucht Charlotte mir zu erklären.
„Oh doch, das tut er", behaupte ich. „Er versteht einfach nicht, was ich für Jo empfinde!"
„Was empfindest du denn für Jo?", fragt sie.
„Ich glaube, das weißt du", vermute ich. „Schließlich hast du es ja auch meinem Vater schon lang und breit erklärt."
Sie seufzt. „Okay. Aber was ist zwischen euch passiert?"
„Erzähl es bitte nicht meinem Vater, okay?", flehe ich. „Ich will seine Meinung dazu nämlich absolut nicht hören."
Sie lächelt. „Es bleibt unser Geheimnis. Versprochen."
Ich beginne zu erzählen. „Sie hat mir gesagt, dass sie mich nicht liebt, damit es für mich nicht so schwer ist, falls sie irgendwann nicht mehr hier sein kann. Du weißt, was ich meine, oder? Jedenfalls ist das jetzt zwei Wochen her. Und heute hat sie mir die ganze Wahrheit gesagt. Den Grund, warum sie das zu mir gesagt hat. Und ich weiß, dass sie es gut gemeint hat, aber ich kann ihr nicht so einfach verzeihen. Es geht einfach nicht, verstehst du? Doch andererseits will ich bei ihr sein. So oft es geht."
Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. „Du solltest ihr vergeben. Aber wann und wie, das musst du selbst wissen. Doch ich denke, du wirst es wissen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist."
Lächelnd nicke ich. „Danke. Dein Rat bedeutet mir echt viel."
„Weißt du, für sowas sind Mütter da. Und du kannst immer zu mir kommen, wenn du etwas brauchst."
„Okay. Danke nochmal."
„Kein Problem." Dann geht sie wieder.
Ich schaue auf mein Handy, ob mir Jo schon zurückgeschrieben hat. Und das hat sie! Natürlich können wir das. Und ich bin froh, dass du gefragt hast. Schlaf gut.
Ich lächle. Ich glaube, der richtige Moment, um ihr zu vergeben, wird bald kommen. Du auch, schreibe ich zurück.

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt