Jo

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Ich liege in meinem Bett und lese. Meine Bettnachbarin Emma sitzt auf ihrem Bett und blickt an die Decke. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie scheint ziemlich niedergeschlagen zu sein. Schon seit ungefähr einem Jahr teile ich mir jetzt mit ihr ein Zimmer, da kenne ich sie schon ein wenig.
„Emma, ist alles klar bei dir?", frage ich und sehe sie besorgt an.
Sie seufzt und schaut mich eine Weile an. „Mir geht es gut."
Ich lege mein Buch aus der Hand und setze mich zu ihr. „Ich weiß, dass etwas mit dir ist."
Ihr läuft eine Träne über die Wange, die sie aber schnell wegwischt. „Es ist nur...ich habe dir doch erzählt, dass die Ärzte gesagt haben, dass ich nächste Woche entlassen werde."
Ich nicke. „Aber das ist doch großartig!"
„Ja", erwidert sie, „aber jetzt, jetzt sagen sie, dass es doch nicht klappt. Das ist alles so unfair!"
„Vieles ist unfair", entgegne ich, „das solltest du doch mittlerweile wissen. Sie hätten dich doch schon so oft fast entlassen, aber dann doch nicht."
„Ich halt das einfach nicht mehr aus", schluchzt Emma. „Am liebsten würde ich auf der Stelle sterben. Dann müsste ich diesen ganzen Scheiß nicht mehr mitmachen!"
Ich nehme sie in den Arm. „Ja, ich würde auch gerne sterben." Auch ich habe das alles ziemlich satt und ich verstehe sie nur allzu gut.
Nach einer Weile steht Emma auf. „Tut mir leid, aber ich will jetzt alleine sein." Dann läuft sie aus dem Zimmer.
So ist das eigentlich immer bei uns. Eine von uns soll entlassen werden, aber dann klappt es wiedermal nicht und wir sind zutiefst enttäuscht. Langsam bezweifle ich, dass ich je aus diesem Krankenhaus entlassen werde.
Ich lege mich wieder in mein Bett und will weiterlesen, aber ich kann mich einfach nicht auf mein Buch konzentrieren.

Also stehe ich wieder auf und gehe aus dem Zimmer. Ich laufe den Gang entlang, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Es ist alles einfach so scheiße hier! Am liebsten würde ich einfach abhauen, aber man kommt ja hier doch nicht raus.
„Jo, ist alles in Ordnung?", fragt mich plötzlich jemand.
Überrascht drehe ich mich um. Da sind Jonas und Leo. Die beiden haben Krebs und Jonas ist Emmas Freund.
Ich schüttle den Kopf. „Nein, nicht wirklich."
„Was ist passiert?", fragt Jonas.
„Es hat wieder nicht funktioniert", erwidere ich, „Emma darf nicht raus."
Leo seufzt. „War das nicht von vornherein klar?"
„Du verstehst es nicht, oder?", schreie ich ihn an. „Ständig sagen sie uns, wie gut es für uns aussieht und dass wir bald entlassen werden, aber wenn es dann soweit ist, meinen sie, dass wir noch ein wenig hierbleiben müssen!"
„Natürlich verstehe ich das", entgegnet Leo. „Denkst du etwa, bei uns ist es anders?"
„Nein, aber du tust so", erkläre ich. „Jonas, ich denke, du solltest mal nach Emma sehen. Sie braucht dich."
Er nickt. „Ich werde sie gleich mal suchen. Bis später." Er und Leo drehen um und fahren in die entgegengesetzte Richtung weiter.

Ich habe keine Ahnung, wohin ich jetzt gehen soll. Also gehe ich einfach geradeaus. Das mache ich immer. Diesen Gang kenne ich mittlerweile in- und auswendig. Hier sind alle Zimmer von Nummer 301 bis Nummer 340. Hier liegen die Krebskranken, vor allem Kinder und Jugendliche. Ich denke, ich könnte die Namen aller Patienten, die auf diesem Gang ihr Zimmer haben, aufzählen. In Zimmer 301 liegen Emilie Maier und Katharina Berger. In Zimmer 302 liegen Stefan Eder und Simon Schuster. In Zimmer 303...

Plötzlich fährt ein Junge mit seinem Rollstuhl gegen mein rechtes Schienbein. Erschrocken drehe ich mich um.
„Kannst du nicht aufpassen?", motzt er mich an.
„Wie bitte?", entgegne ich. „Ich soll aufpassen? Du hast doch mich angefahren!"
„Ja, weil du hier mitten im Weg stehst."
„Du bist wohl noch nicht lange hier", vermute ich.
„Woher willst du das denn wissen?", entgegnet er.
„Du hast keine ernste Krankheit", erkläre ich, „dann würdest du dich nämlich anders benehmen. Du würdest dich nicht so verhalten, weil du auf etwas ganz anderes konzentriert bist. Nämlich aufs Überleben."
Er lacht. „Sieht ja aus, als würdest du dich damit bestens auskennen. Wie lange hast du denn noch zu leben, du Arme? Ein oder zwei Tage vielleicht noch?"
Das ist wie ein Schlag in die Magengrube. Aber ich werde mich ja wohl nicht wegen so einem arroganten Arsch mies fühlen. Nein, das werde ich nicht. „Und jemand, der schon länger hör wäre, würde so etwas nicht sagen."
„Da ist aber jemand sensibel", grinst er.
„Lass mich einfach in Ruhe, ja?"
„Sonst was?", fragt er lachend.
Da fällt mir nichts ein. Besonders schlagfertig war ich noch nie. Also drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe mit schnellen Schritten davon.

Du arroganter Arsch! {Club der roten Bänder}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt