Kapitel 31

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Liv griff die Zügel etwas kürzer. Ihre Gedanken rasten. Ihr Vater war hier. Thomas Langhoff. Er wollte ihr beim Reiten zusehen. Er war extra wegen ihr hier her gekommen. Liv schluckte. Hunderte von erwartungsvollen Gesichtern blickten ihr entgegen. Das Einzige worauf sie - und auch Liv - warteten, war die Startglocke. Sie wollten eine spektakuläre Runde sehen; eine fehlerfreie. Nervös ließ das Mädchen ihren Blick zu den Richtern schweifen, doch sie erkannte nur verschwommen drei Silhouetten in dem Richterhäuschen.

Mit Jumper hatte sie zuvor die Einlaufprüfung der Ponyreiter gewonnen. Nicht einmal Vincent hatte ihre Zeit toppen können. Er hatte sich sogar einen Fehler erlaubt und wurde nicht mehr platziert. Doch Liv merkte, dass Tantot nicht sonderlich gut drauf war. Sie ließ ihren Blick über die Zuschauerränge schweifen, in der Hoffnung, sie würde ihren Vater erkennen, doch, wie schon zuvor im Pony M konnte sie ihn nicht sehen.

Der Reitsport war kein einfaches Geschäft. Er beinhaltete Risiko, ein großes Risiko. Es war ein Sport, wo Vertrauen der Weg zum Erfolg und Angst keine Option war. Doch Liv hatte Angst. Sie hatte sogar sehr große Angst. Sie fürchtete sich davor zu versagen. Vor dem, was ihre Mutter dazu sagen würde. Sie wollte das alles nicht mehr. Sie wollte keine Turniere mehr reiten. Sie wusste das nun. Selbst nach dem Sieg mit Jumper. Es war ihr letzter gewesen, für immer. Vielleicht konnte sie ja zu ihrem Vater ziehen. Er war so herzlich zu ihr gewesen.

Aber ... was redete sie sich da überhaupt ein? Ihre Mutter wäre niemals einverstanden damit und sie kannte ihren Vater doch gar nicht. Was war, wenn er in Wirklichkeit ganz anders war, als heute? Wenn sie nicht mit ihm auskommen würde? Wenn sie seine neue Frau und ihren Halbbruder nicht mochte? Es waren zu viele Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Es waren zu viele Vielleichts und Wenns, um von einem realistischen Entkommen zu sprechen. Denn das war einfach nicht möglich. Sie war gefangen. Gefangen in einer Welt, in der sie eigentlich gar nicht sein wollte.

Die Startglocke erklang und Liv atmete beinahe gleichzeitig auf. Dann grüßte sie mit einem kurzen Nicken und galoppierte ihren Hengst an. Der Braune spitzte die Ohren und zog mit raumgreifenden Gängen auf den ersten Sprung zu.

Da war ja auch noch Vincent. Vincent, der ihren Vater kontaktiert hatte; der sie geküsst hatte; dem sie etwas bedeutete. Liv schnürte es die Kehle zu. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie wollte das nicht, sie wollte das einfach nicht. Unpassend kam das Paar an den Oxer heran und Tantot D'Amour musste sie mit einem riesigen Satz aus der verzwickten Lage retten. Dennoch konnte der große Hengst nicht verhindern, dass die obere Stange ins Schwanken geriet und letztendlich zu Boden polterte.

Liv blickte nicht zurück. Ihr war das egal. Einfach nur völlig gleichgültig. Ihr war schon lange bewusst geworden, dass sie zu der Marionette ihrer Mutter geworden war. Sie hatte keine eignen Endscheidungen mehr zu treffen. Sie war einfach nur eine beliebige Schachfigur, die von Dorothea von Feld zu Feld gerückt wurde.

Sprung zwei und drei klappten nur mit Not und Mühe. Liv würde sowieso nicht durch den Parcours kommen. Sie sah es bereits kommen, wie sie wegen Ungehorsam des Pferdes herausgeklingelt wurde.

Und Dino? Ihr kleiner Dino. Er sammelte nun mit einer anderen Reiterin haufenweise Schleifen. Er war mit Lisa nun zu dem Team geworden, das er einst mit Liv gewesen war. Man könnte sagen, dass er sie einfach ausgewechselt hatte. Dino war etwas Besonders. Es war seine Bestimmung von Sprung zu Sprung zu fliegen und den Sieg nach Hause zu tragen. Er hatte Liv das Fliegen gelernt, er hatte sie im Siegen unterrichtet, er war der Grund für ihren Erfolg.

Dino war das eine Pferd in ihrem Leben, das kein zweites Mal kommen würde. Er war ihr Seelenverwandter. Zumindest dachte sie das. Bis jetzt. Bis jetzt, als er sie abgewiesen hatte, als wären sie niemals gemeinsam Europameister geworden, als hätten sie niemals so viel gemeinsam erlebt, als wären sie niemals Freunde gewesen; Partner. Er hatte sie vergessen. Für ihn gab es nun eine neue Liv.

Ein grauer Schleier verschlechterte Livs Sicht. Tränen rannen ihre Wangen hinunter. Was für ein verkorkstes Leben sie doch führte. Wieso konnte alles nicht einfach viel einfacher sein? Wieso hatte ihre Mutter Dino verkaufen müssen? Wieso war alles so, wie es war?
Es war nicht fair.

Viele Mädchen träumten davon so ein Leben, wie sie führen zu können. Aber was erhofften sie sich darunter? Sie sahen nicht die Realität. Sie sahen nur die Fassade; die glänzende Fassade, die so viel Positives verkörperte. Aber es war wie ein böser Traum. Alles war so unwirklich. Es war, als wäre ihre Geschichte von einem Autor verfasst worden, als wäre sie gar nicht wirklich passiert.

Verschwommen erkannte Liv vor sich das nächste Hindernis. Wie viele Galoppsprünge waren es noch bis dorthin? Sie hatte die Zahl vergessen, die sie vorhin gezählt hatte. Das Bild wackelte. Es tanzte vor ihren Augen umher und der blauweiße Steilsprung wechselte unaufhörlich seinen Standort. Sie konnte die Distanz einfach nicht sehen. Panik kroch ihr hoch.

Tantot wurde von seiner Reiterin verunsichert. Er war dabei den Sprung falsch zu taxieren. Obwohl noch beinahe ein Galoppsprung hineingepasst hätte, drückte er sich kraftvoll mit den Vorderbeinen vom Boden ab und schnellte in die Höhe. Fliegen, es fühlte sich an wie fliegen. Plötzlich jedoch bekam sie das Gefühl, als würde Livs Airbus ins Straucheln geraten.

Und Jumper. Das goldene Pony, das sie die letzten Monate begleitet hatte. Er war für Liv ein neuer Freund geworden. Sie waren zu einem Team zusammengewachsen. Vielleicht würde sie ihn irgendwann mal so lieben, wie Dino, aber konnte sie das überhaupt?

Tantot hatte die oberste Stande zwischen die Vorderbeine bekommen und stürzte zu Boden. Ein Aufschrei der Menge ließ Liv zurück in die Realität springen. Sekundenschnell kam sie mit einem harten Aufprall im Sand auf. Und dann verschwamm ihr Umfeld in endlosen Tränen. Daraufhin folgte Schwärze. Schwärze und Stille.

Fortsetzung folgt ...

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