Unwetter

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"Anna, wo warst du? I-ich wollte grade zu dir", hält Lukas mich auf, als ich gerade mit gesenktem Blick an ihm vorbei gehen will. Ohne zu antworten laufe ich einfach weiter.

"Anna bitte. Ich will mich entschuldigen", ruft mir Lukas hinterher. Wieder keine Reaktion meinerseits. Eigentlich will ich nichts lieber als ihn zu umarmen, aber ich bin einfach viel zu sauer auf ihn und will es ihm nicht ganz so einfach machen. Also laufe ich einfach weiter, schließe meine Haustür auf und knalle sie hinter mir wieder zu. Durch das Fenster in der Küche, wo ich mir erstmal etwas zu essen und trinken hole, sehe ich Lukas immer noch in unserer Einfahrt stehen. Eine ganze Weile steht er noch so da und starrt auf die Tür, bis er sich dann letztendlich doch verzieht.

Mit einem großen Glas Wasser und einem belegten Brötchen setze ich mich in unser Wohnzimmer auf das große schwarze Sofa, welches an der Wand gegenüber unseres Fernsehers steht. Eigentlich vollkommen uninterrisiert schalte ich mit der Fernbedienung durch sämtliche Programme, bis ich an irgendeinem Film hängen bleibe. Typisch Sonntag Nachmittag läuft irgendein komischer Liebesfilm. Abwesend lasse ich ihn im Hintergrund laufen, während ich mit meinen Gedanken in ganz anderen Sphären schwebe. Wie soll es anders sein, natürlich schwirren sie nur um Lukas.

Gegen 22 Uhr, also nach vier Stunden nutzlos auf dem Sofa herum hängen, mache ich mich Bett fertig und mache es mir unter meiner Bettdecke bequem. Meine Gardinen lasse ich mit Absicht offen, um dem Gewitter zu schauen zu können, dass gerade draußen tobt. Gewitter haben mich schon immer unheimlich fasziniert, die lauten Donner unmittelbar nach den grellen Blitzen, die nur ganz kurz zu sehen sind, jeder von ihnen einzigartig. Und dann die tausenden Regentropfen, die durch den peitschenden Wind an die Fensterscheiben klatschen oder auf die Erde prasseln. Das ganze Szenario beruhigt mich immer.
Mit dem Blick immer auf das Fenster gerichtet schlafe ich dann doch irgendwann ein.

Ein dumpfes Klopfen reißt mich aus dem Schlaf und ich schrecke auf. Etwas panisch blicke ich mich in meinem, noch immer dunklen, Zimmer um. Nichts zu sehen, wahrscheinlich hab ich mir das alles nur eingebildet. Also lege ich mich wieder hin und schließe meine Augen um weiter zu schlafen.
Da war es wieder! Das Klopfen! Sofort schrecke ich wieder hoch. Erst als ein Blitz mein komplettes Zimmer erleuchtet, kann ich die Ursache des Geräuschs erkennen. Draußen, vorm Fenster auf meinem Balkon steht jemand. Fuck! Wer ist das? Das ist ja wie in einem schlechten Horrorfilm. Was soll ich machen? Mich hinlegen und so tun als hätte ich nichts gesehen? Hin gehen und nach schauen? Vielleicht Lukas anrufen? Nein, das bringt doch nichts.
Langsam aber sicher sammeln sich Tränen in meinen Augen. Tränen der Angst und Verzweiflung.

Die Entscheidung, was ich machen soll, wird mir allerdings abgenommen durch eine mir inzwischen nur all zu gut bekannte Stimme.
"Anna, bitte mach auf. Ich muss mit dir reden." Lukas. Erleichtert atme ich auf und schleppe mich aus meinem Bett. Auf dem Weg zur Balkontür mache ich mich schon mal für meine saftige Ansage bereit. Erst lässt er mich so im Stich und dann erschreckt er mich zu Tode. Die Wut in mir steigt von Schritt zu Schritt.

Energisch reiße ich die Tür auf, doch vergesse sofort all die Sachen, die ich ihm an den Kopf werfen wollte, als ich ihn so klatschnass mit hängendem Kopf vor mir stehen sehe. Sofort schlinge ich meine Arme um ihn und ziehe ihn ganz fest an mich. Wie ich seine Nähe doch nach nur diesem einen Tag vermisst habe.

"Du bist echt ein Arsch Lukas, weißt du das eigentlich?", flüstere ich gegen seine Brust und drücke mich von ihm weg.
"Ich hab gedacht wir halten zusammen und jetzt lässt du mich einfach im Stich. Verdammt Lukas ich hab dich heute echt gebraucht", langsam werde ich immer lauter. Trotz meiner Wut ziehe ich ihn in mein trockenes Zimmer. Es bringt ja nichts ihn im Regen stehen zu lassen. Tropfend steht er vor mir. Mit hängenden Armen und den Blick auf den Boden gerichtet. Auch ich bin allein durch diese eine Minute im Freien, in der ich Lukas umarmt habe, vollkommen durchnässt. Langsam beginnt er zu zittern, hebt aber immer noch nicht seinen Blick.

"Warte kurz", weise ich an und verschwinde aus meinem Zimmer. Auf dem Weg ins Bad überlege ich, was ich ihm trockenes zum Anziehen bringen kann. Keiner aus meiner Familie, nicht mal mein Vater, ist so groß, dass seine Sachen Lukas passen würden, wir sind eine echte Zwergenfamilie.
Auch wenn ich immer noch sauer bin, kann ich ihn ja nicht einfach klitschnass da stehen lassen.

Immer noch grübelnd hole ich ein Handtuch aus dem Badezimmer, als mir der Bademantel meines Vaters auffällt. Passen wird er nicht aber es ist besser als sich in eine zu kleine Hose zu zwängen.

"Hier." Mit diesem kleinen Wort werfe ich Handtuch und Bademantel vor ihm auf mein Bett und verlasse das Zimmer gleich im Anschluss wieder, um in die Küche zu gehen. Dort bereite ich für uns beide einen warmen Kakao vor. Unangenehme Situationen sind immer um einiges erträglicher mit einem schönen Kakao.

Mit den zwei dampfenden Tassen in der Hand betrete ich wieder mein Zimmer, in dem Lukas immer noch an der selben Stelle steht, diesmal allerdings in einem viel zu kurzen Bademantel. Eine der Tassen reiche ich ihm und lasse mich auf meinem Bett nieder.

"Setz dich", fordere ich ihn auf und klopfe mit der freien Hand neben mich. Egal wie sauer ich bis eben war, wenn er so da steht und schuldbewusst auf den Boden starrt, kann ich ihm ja nur verzeihen. Trotzdem werde ich es ihm nicht ganz so leicht machen. Das nehme ich mir zumindest vor, ob es klappt ist dann eine andere Sache.

Ich will mehr sein als ein guter Bekannter  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt