Kapitel 2

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Es ist Nacht geworden.
Ich schaue aus dem Fenster und erkenne nur ganz schwer die Umrisse der Landschaft.
Mein Zimmer ist mit in die schwarze Farbe der Nacht eingetaucht und vorsichtig versuche ich mich auf mein Bett zu retten ohne gegen etwas dagegen zu laufen.

Du solltest vielleicht wissen, dass ich ein sehr unordentlicher Mensch bin. Wow. Du kennst mich ja schon richtig gut. Ich bin eine unordentliche Lügnerin, die sich hinter vorgetäuschtem Selbstbewusstsein versteckt und sich stark fühlt. Du denkst du kennst mich, aber was ist, wenn ich dir sage das ich mich selbst in letzter Zeit nicht mehr kenne? Ich verlasse das Haus so selten. Ich denke mir bevor ich zu Bett gehe, eine Ausrede für den nächsten Tag aus. Morgen gehe ich übrigens meinen Opa im Krankenhaus besuchen. Der Arme hat Herzprobleme und steht kurz vor seinem Tod. Also erstens habe ich keinen Opa mehr und zweitens habe ich ihn nie gekannt und drittens starb er an Lungenversagen bevor ich überhaupt da war.

Mein Alltag ist langweilig und abgenutzt. Deshalb habe ich angefangen zu schreiben. In der Schule in den Heften und Schulbüchern, zu Hause auf losen Blättern. Ich schreibe, um glücklich zu sein. Denn ich kann so wie ich mich gerade fühle nicht glücklich sein.

Mein Blick fällt in einen Glasschrank. In dem Schrank befindet sind ein rotes Buch. Es schimmert leicht durch das matte Licht. Das komische ist nur, dass ich dieses Buch noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich knipse das Licht an und gehe in Richtung Schrank. Ich nehme das Buch in die linke Hand und bemerke eine Briefmarke die das Cover ziert. Erst jetzt fällt mir auf, dass über das gesamte Buch eine alte, unlesbare Schrift zierte. Etwas nervös klappte ich das Buch auf.
Es war leer.
Nein. Es war doch nicht leer.
Auf der allerletzten Seite stand in Blockschrift L i l y s S t o r i e s.

Ich setze mich auf das Bett und ohne weiter darüber nachzudenken, hole mir einen Stift. Und ich fange an zu schreiben. Ich bin nicht mehr Lily. Das einzige was die Buchlily mit der echten Lily gemeinsam hat ist der Name. Ich habe keine braunen Haare mehr und auch keine dunkelbraunen Augen. Ich bin auf einmal perfekt. Blondes Haar und blaue Augen und das schönste Lachen der Welt.

Ich sehe aus wie Charlotte. Sie ist der Inbegriff für perfekt und ich der Inbegriff für normal. Normal und anders. Aber jetzt. Jetzt bin ich auch perfekt.

Und ich kann alles, wirklich alles, tun was ich will.
Ich schreibe und fühle mich so frei und unbeschwert. Die Zeit spielt keine Rolle mehr. Nichts spielt eine Rolle.

Meine Rückenschmerzen geben wecken mich auf und ich sehe nach der Uhrzeit im echten Leben.
1:32
Oh. Also. Das. Ist. Mir. Ziemlich. Egal.
Und ich schreibe weiter. Und weiter.
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Die ersten Sonnenstrahlen dringen in mein Zimmer. Die letzten Stunden schrieb ich nicht mehr, sondern lag nur noch herum. Aber trotzdem schlief ich nicht.
Heute ist Freitag.
Der frische Wind des Oktobers zerstört meine Haare, während ich gerade am Weg zur Haltestelle bin. Sie scheint wie leergefegt. Aber das könnte auch daran liegen, dass hier wo ich lebe, nicht gerade viel los ist.
Ohio ist vielleicht mein Zuhause, aber trotzdem fühlt es sich so an als würde es mich festhalten. Ich habe Angst, dass ich die Bilder und Erinnerungen verlieren könnte.

Ich steige ein und setzte mich irgendwo in die Mitte. Die Fahrt zur Schule gehört zu meinem langweiligen Alltag. Stickige Luft füllt den Innenraum des Gefährts, obwohl höchstens 7 Personen, inklusive Busfahrer, sich 45 Sitzplätze teilen müssen.
Meine Schule ist pastellblau und ich mag die Farbe eigentlich ziemlich gerne.
Der Eingang ist dreigeteilt und ich habe keine verdammte Ahnung warum, denn am Ende benützen alle ein und dieselbe Eingangstür, weil alles andere eine Umweg wäre. Die Spinde sind auch blau und nicht wie in meiner alten Schule bunt gemischt.

'Hi'
'Hi Sophie'
Sophie ist meine beste Freundin.
Besser gesagt sie ist meine, aber ich nicht ihre. Ich hasse den Gedanken bei keiner Person die erste Wahl zu sein. Aber es ist so. Deshalb versuche ich immer mehr mich von ihr abzuwenden. Aber dann hätte ich niemanden.

'Geh du schon vor', versuche ich Sophie etwas abzuschütteln. Und schon geht sie mit Sarah an mir vorbei.
Ich hasse Sarah.
Parallel zu mir ist die Spindreihe durch den Mittelgang geteilt.
Auf der anderen Seite steht ein Mädchen mit dunkelblondem Haar. Ich glaube sie heißt Leonie. Sie ist eine von den 'Beliebten'.
Sie biegt in den Mittelgang ein und für kurzen Augenblick haben wir Blickkontakt. Michael Kors Tasche, perfekter Eyeliner, grüne Augen und geglättete Haare.
Ich mag sie. Und mich soll keiner fragen warum.
Sie lächelt mich flüchtig an und ich zucke nett mit meinem rechten Mundwinkel.
Das mache ich oft anstatt zu lächeln.

'Sind Sie traurig?'
Ich drehe mich zu der Stimme, die mich aus meinen Gedanken gerissen hatte.
Besser gesagt. Die Stimme hat meine Gedanken tot geschossen.
'Was?'

Die weiße WandWhere stories live. Discover now