Kapitel 1

22 3 9
                                    

Es war der 28. September 2015.
Ein spätsommerlicher Tag wie jeder andere. Und der letzte Tag an dem ich Charlotte sah. Hätte ich gewusst, dass ich sie nie wieder sehen würde, hätte ich sie nie gehen lassen.
Und hätte ich am Tag darauf gewusst, welche Nachricht mich erwartet, wäre eine bessere Alternative gewesen aufzustehen und tot umzufallen. Aber weder das eine noch das andere ist erwünscht eingetreten.

Die Nächte danach schlief ich kaum, denn immer als ich die Augen schloss sah ich die letzten Bilder von ihr. Ihre blonden Haare, um die ich sie immer so beneidet hatte, die ihr in leichten Wellen locker über die Schultern fielen. Und die hellblauen Augen, die sie genervt überdrehte.
Ich hasste diese Bilder. Ich hasste, hasste, hasste diese verdammten Bilder.
Und wie von einem Tag auf den anderen, waren die Bilder weg. Als hätte jemand in meinem Kopf den Papierkorb entleert.
Sie waren einfach weg. Und der ganze angesammelte Hass war mit ihnen gegangen.

Ich lehne mich an den Spind.
'Kannst du jetzt heute mitkommen oder nicht?', fragte sie mit unerträglichem Unterton
'Nein, Sophie. Wie schon gesagt. Ich muss Mathe lernen.'
'Ja. Ist ja wieder typisch für dich.'
'Ach, vergiss es. Ich bin dann mal weg. Bye und viel Spaß mit Sarah'
'Bye'

Ich bin eine Lügnerin. Schön dich kennen zu lernen.
Wie schon gesagt, ich bin eine Lügnerin. In letzter Zeit lüge ich sehr viel. Es gibt mir das Gefühl, alte Fehler einfach auszubessern. Es gibt mir ein Gefühl von Stärke.
Jeder hat Schwächen. Meine Schwäche ist, Stärke vorzutäuschen. Ich verstecke mich hinter erfundenem Selbstbewusstsein, kaschiere Fehler um stark auszusehen und ich lüge um glücklich zu sein. Ich rede mir solange ein das alles gut ist, bis es wirklich gut ist. Naja, es scheint so.

Ich drehe den Schlüssel im Schloss zweimal nach links und durch ein sanftes Klacken öffnet sich die Tür. In meine Nase steigt ein leichter frischer Limettenduft. Darf ich vorstellen: unser neues Duftspray im Klo. Ich durfte den Duft wählen. Es war die härteste Entscheidung in meinem ganzen Leben. Zur Auswahl standen: ein süßer, beeriger Duft namens Liebestraum, eine exotische Geruchsexplosion aus Mango und Orange und der Limettenduft.
'Hol bitte die Post, Lily', schreit meine Mutter aus der Küche.
Verdammt. Immer ich.
'Jaaa', kreische ich.

Ich öffne die Tür und gehe mit schnellen Schritt die Pflastersteine hin zum Briefkasten. Beim Öffnen des Kastens verdreht ein unangenehmes Quietschen meine Ohren.
Mit einem Stapel voll Briefen, Zeitungen und Werbeprospekten in der Hand versuche ich mir die Schuhe auszuziehen.
Am Ende siegte der Verstand und ich legte den Stapel ab.
'Wie war die Schule?'
'Da. Die Post', ich drückte meiner Mutter den Stapel in die linke Hand. Da ihre rechte Hand mit einem Kochlöffel beschäftigt ist. 'Die Schule war wie immer.'
Mit diesen Worten verabschiedete ich mich in mein Zimmer.

Die weiße WandWhere stories live. Discover now