Der allerkleinste Schüler

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Am ersten Tag nach den Pfingstferien erwarten uns einige Überraschungen: ein Mädchen ist vom Vater in ihre alte Heimat entführt worden, dazu haben wir drei neue Schüler. Zwei davon (ein Geschwisterpaar) haben früher in einem anderen Bundesland gewohnt und sprechen fließend Deutsch, können aber mit grammatischen Begriffen nichts anfangen. Das dritte Kind kommt aus Syrien. Vor den Ferien hatten wir schon seinen Schülerbogen bekommen, obwohl er bis dato nicht erschienen war.

Resul konnte am ersten Tag schon sagen: „Ich bin elf Jahre alt". Ob das stimmte, war eine Zeit lang ein Diskussionsthema zwischen den Frauen, die ihn betreuten. Ich selbst habe drei Kinder und habe von Anfang an nicht geglaubt, dass er „so alt" war. Die Biolehrerin meint, er sei „nur" unterernährt. Nach ein paar Tagen zeigte sein Verhalten, dass er weit weg von der Pubertät ist. Er rennt in den Pausen zu verschiedenen Mädchen, berührt sie kurz und kichert vor sich hin. Oder er provoziert ältere Schüler, die sich nicht trauen, ihn zu hauen. Am Anfang war er so was wie ein kleiner frecher Bruder, über den alle lachen. Langsam wird er verhaltensauffällig, ohne dass er versteht, was das ist. Noch weniger, warum plötzlich alle gegen ihn sind.

In seiner dritten Woche in unserer Klasse wird er wie alle anderen Kinder von einer Ärztin untersucht. Normalerweise begleite ich die Kinder dabei. So erfuhr ich, dass Resul 25 Kilo wiegt und 1,32 Meter groß ist. Meine Vermutung, dass er 8 oder 9 Jahre alt ist, verstärkt sich dadurch. Die Ärztin überreichte ihm einen Zettel mit seinen Befunden mit den Wörtern, „Mama geben", doch eine Mama hat er hier nicht.

Was wissen wir über dieses Kind? Er ist mit einem Onkel hierher geflohen, seine Eltern sind noch in Syrien. Falls sie noch am Leben sind. Wenn er in der Schule fehlt, meldet sich niemand und wir haben keine Möglichkeit, anzurufen und zu erfahren, was mit ihm los ist. Er prügelte sich einmal mit einem älteren Jungen aus unserer Klasse, am nächsten Tag kam er einfach nicht.

Die Lehrerin, die ihn alphabetisiert, meint in ihm einen klugen Kopf zu erkennen. Bei mir sitzt er und lernt die Zahlen zu malen, von oben nach unten, von links nach rechts. Viel mehr kriegt er nicht mit. Er ist traurig und einsam.

Im Vergleich zu ihm sind die „älteren" Flüchtlinge einigermaßen integriert. Obwohl die Stimmung in der Schule gerade kippt. Sie werden mutiger dadurch, dass sie die Sprache besser verstehen. Dann spielen sie ganz normale Streiche in der Pause, was wiederhin die anderen Schüler (und Lehrer) mehr ärgert, als es mit normalen deutschen Schülern der Fall gewesen wäre. Ein bisschen so, als ob sie „nur" dankbar und brav sein dürfen. So einfach ist es nicht. Jetzt, da ihre Identität als Flüchtlinge verblasst, zeigen sie, was sie wirklich sind: Kinder.


Alltag in der ÜbergangsklasseWhere stories live. Discover now