Wir sind alle "Teacher"

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Mein deutscher Nachname ist lang und schwer auszusprechen. Wenn neue Schüler kommen, schreibe ich ihn an die Tafel und wiederhole zwei,dreimal. Bei Nadir und Ghazi spare ich mir, an die Tafel zu schreiben und wiederhole einfach. Als Nadir mich was fragen wollte, greift er zu einer einfacheren Lösung: er nennt mich Teacher.

Natürlich sagt er zu allen Lehrern in der Schule dasselbe: Teacher. Als wir neulich gemeinsam durch die Straße liefen, sieht er der Leiter des Heimes, wo er wohnt. Er zeigt mir den Mann und sagt: my teacher. Langsam begreife ich, dass für ihn das Wort Teacher viel mehr bedeutet. Für ihn ist ein Teacher ein Erwachsener, der sich um ihm kümmert. Ob Leher oder Sozialpädagogen – alles fallen unter diesem Oberbegriff, das fast ein Synomin für Ersatzeltern ist.

Aufgeweckt wie er ist, merkte Nadir schon, dass er Erwachsene mit seinen Englischkentnissen beeindrucken kann. Ein Junge aus Afganistan, klein,zierlich. Aber flink und so aufmerksam, dass nichts ihm entgeht.„Teacher", zieht er an meiner Jacke und zeigt auf einen anderen Jungen in der Klasse, der was auf dem Boden verschüttet hat, „no good".

Als wir an seinem Heim vorbei laufen, zeigt er mir „sein" Haus und sein Zimmer, das man von der Straße sehen kann. Beide Jugen schlafen in 4-Bett-Zimmern, aber nicht im selben. Afghaner und Syrer haben unterschiedliche Schlafzimmer. Auch in der Klasse sitzen beide nach einer Woche nicht mehr zusammen. Auch wenn sie sich nicht fließend unterhalten können – streiten können sie.

Vermutlich ist die Schlafsituation - als „Kleiner" in einem Zimmer mit älteren Jungen – der Grund dafür, das Ghazi immer so müde ist. Auf dem Rückweg vom Museum schlief er in der U-Bahn beinahe ein. Sonst gähnt er viel und ermüdet schneller als Nadir, der auch nicht so sehr traumatisiert wirkt.

Im Gespräch mit meiner Vorgesetzten versprach ich vorsichtig zu sein mit dem Erlernen des Wortschatzes. Mit anderen Kindern kommt das Thema Familie relativ bald. Bei unseren Flüchtlige wollte ich kein konfliktbelagertes Thema üben. Aber was wäre für sie sinnvoll? Küche und Werkzeuge lehnte ich als Wortfelder ab und entschied mich für Fahrzeuge. Ich zeigte Bilder in LÜK und fragte, mit welchem Fahrzeug sie schon gefahren sind. Nadir behauptete schlich und einfach, in Afganistan geht man immer zu Fuß. Ghazi erzählt, früher ist er schon mal mit einem Flugzeug geflogen. Dann mischt sich Nadir wieder ein, „Teacher, in Syrien Flugzeuge boom und pan pan". Ghazi ergänzt sofort mit seinen Händen: Das Flugzeug geht herunter (boom) und wirft Granaten (pan pan). Soviel zu „neutralen" Themen. Ist es irgendwie möglich, mit denen Wörter zu erlernen, ohne sie an ihre Heimat und an den Krieg zu erinnern?

Besonders schwierig war es, zwischen Straßenbahn und U-Bahn zu unterscheiden. Gab es beide mal in Syrien, haben sie diese Fahrzeuge überhaupt schon gesehen? Missverständnisse lassen sich im Unterricht kaum vermeiden. Weil wir so gut wie nichts über ihren Alltag in ihren Heimaten wissen. Was verstehen sie von „unserer" Welt?


Alltag in der ÜbergangsklasseWhere stories live. Discover now