1. Donnergrollen

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Es war heiß, was es sehr unangenehm machte, von einer Sekunde zur anderen loszusprinten. Dennoch wollte ich lieber etwas ins Schwitzen kommen und die Straßenbahn schaffen, als noch 20 Minuten in der Sonne zu sitzen und auf die nächste Bahn zu warten. Herr Ellenberg hatte seinen Unterricht wieder einmal zu spät beendet. Zum Glück schaffte ich es noch, mit einem Bein vorraus in die Bahn zu hüpfen, bevor die Tür sich schloss. Ich war froh, einen Platz zu finden, auf den ich mich setzen und von meinem unerwarteten Sprint konnte. Ich atmete tief durch und trank einen Schluck Wasser aus meiner Tupper-Flasche. Mein Blick wanderte zum Fenster auf der linken Seite. Wohnhäuser, Bäckereien und Friseursalons rauschten vorbei, ich beobachtete alltägliche Szenen, ein Mann, der seiner Frau aus dem Auto half, Teenager, die mit ihren Handys in der Hand auf einer Bank saßen, eine ältere Dame, die mit Einkaufstüten eine Straße überquerte. Ein ganz normaler Nachmittag im Juni. Die Ferien würden sehr bald beginnen, eine halbe Woche war es noch für mich bis zum Abschluss der 11. Klasse. Ich gab ein Seufzen von mir und kam mir sofort komisch vor, schließlich saß ich in der Straßenbahn. Mittlerweile war ich an meiner Endstation angekommen, also stieg ich aus und schlug den Weg nach Hause ein. Die Luft war stehend heiß, obwohl es noch nicht einmal Hochsommer war. Ich beeilte mich, um so schnell wie irgend möglich in die kühle Wohnung zu kommen. Nach 15 Minuten hatte ich mein Ziel erreicht: Ich lief schnurstracks in mein Zimmer und ließ mich erschöpft von acht Stunden Unterricht und 34°C im Schatten auf's Bett fallen. Im Liegen entledigte ich mich meiner Kleidung, was wahrscheinlich ziemlich lachhaft ausgesehen haben muss. Ich entschied mich dazu, eine kalte Dusche zu nehmen, um mir wenigstens ein klein Bisschen Leben einzuhauchen. Ich war müde von mücken- und hitzegeplagten Nächten, zudem schienen die Lehrer in den letzten Wochen noch einmal richtig Vollgas geben zu wollen, bevor das Schuljahr endete. Glücklicherweise war heute Freitag und ich hatte nichts zu tun. In den letzten drei Schultagen standen nur noch Wandertage und die Zeugnisausgabe an, ich konnte mich von nun an also fallen lassen.

Nach meiner kalten Dusche fühlte ich mich gleich erfrischt und war wieder motiviert, darum fuhr ich ein bisschen Fahrrad. Später las ich noch und schlief, müde wie ich war, über dem Buch ein.

Ich wurde durch warme Sonnenstrahlen geweckt, da ich vergessen hatte, die Vorhänge zuzuziehen. Verträumt streckte ich meine Glieder, gähnte zwei Mal und sprang dann mit Schwung aus dem Bett. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es bereits kurz nach 11:00 Uhr war. Das erklärte die Kaffee-Maschinen-Geräusche aus der Küche. Auf dem Weg ins Bad wünschte ich meiner Mutter einen Guten Morgen. Im Badezimmer drehte ich den Wasserhahn kalt auf, ließ meine Hände volllaufen und klatschte mir das kühle Nass dann ins Gesicht, wodurch ich gleich etwas wacher wurde. Anschließend cremte ich mein Gesicht ein, durchfuhr meine Haare mit der Bürste und putzte meine Zähne. Nach meinem allmorgendlichen Ritual ging ich zurück in die Küche und platzierte mich mit einer Schüssel Cornflakes am Esstisch. Meine Mutter setzte sich mir gegenüber und wir unterhielten uns über die Schule und ihre Arbeit. Meine Mutter war Event-Managerin, weshalb sie öfter geschäftlich reisen musste und somit selten zu Hause war. Nach unserem Gespräch lief ich in mein Zimmer, um Sophie anzurufen. Wir hatten Karten für ein Konzert heute und ich wollte mich erkundigen, ob sie schon einen Plan für den Ablauf des heutigen Abends im Kopf hatte. Nach vier Mal Tuten ging sie ran.
"Hey, Lissy."
Ich hieß eigentlich Letizia, aber für einen Rufnamen war das eindeutig zu lang, weshalb man mich nur Lissy nannte.
"Hi. Wann soll's denn heute losgehen?"
"Das Konzert beginnt um 19:30 Uhr, wir sollten also ungefähr 19:00 Uhr da sein, um akzeptable Plätze zu bekommen."
"Gut, dann hole ich dich 18:30 Uhr ab. Bis dann, ich hab dich lieb."
"Ich dich auch", murmelte sie in den Hörer und legte dann auf. Sie ist eines der wenigen unkomplizierten Mädchen in meinem Bekanntenkreis.
Ich verbrachte den Tag mit Lesen, einem Spaziergang mit meiner Mutter und im Garten, wo ich meine Schildkröte beobachtete. Sie hieß Gertrud und war auf den Tag genau so alt wie ich.

Um 16:30 Uhr ging ich duschen. Wie immer fühlte ich mich danach um Einiges lebendiger, außerdem roch ich nun nach Mandelöl. Mit einem Handtuch-Turban auf dem Kopf cremte ich meinen Körper mit Body-Lotion ein. Daraufhin schlenderte ich ins Zimmer, wo ich meinen Kleiderschrank öffnete und verzweifelt hineinblickte. Unschlüssig stand ich davor herum, bis ich mich dazu entschloss, vorerst meine Haare und mein Make-Up in Angriff zu nehmen. Ich legte einen Hauch dunkelbraunen Lidschatten auf und zog einen Lidstrich mit einem kleinen Flügel. Dann benutzte ich noch Wimperntusche. Als ich relativ zufrieden war, löste ich den Turban auf meinem Kopf, kämmte meine dunkelrot gefärbten Haare durch und föhnte sie etwas an, den Rest wollte ich an der Luft trocknen lassen. Nachdem ich erneut im Kleiderschrank rumgekramt hatte, zog ich ein einfaches, schwarzes Kleid an und peppte mein Outfit mit einem engen Halsband auf. Es war aus schwarzem Samt und hatte einen zierlichen, goldenen Anhänger. Ich sah auf mein Handy, es war 17:45 Uhr. Ich las noch 20 Minuten, dann packte ich meine Umhängetasche für den Abend: eine Flasche Wasser, Aspirin, Kaugummi, Portemonnaie und Schlüssel. Mein Handy ließ ich zu Hause, ich würde es nicht brauchen. Ich zog meine schwarzen Halbschuhe an und wollte gerade zur Tür hinausgehen, als mir die Konzertkarten einfielen. Ich klatschte mit der Hand an meine Stirn, holte sie schnell und betrat dann endgültig das Freie. Nun war ich spät dran, der Bus würde in drei Minuten kommen. Mal wieder musste ich rennen, um mein Transportmittel nicht zu verpassen und wieder schaffte ich es knapp. Erleichtert setzte ich mich. Bis zu Sophie waren es nur drei Stationen.

Die Schlange vor dem Eingang zum Konzertgelände war kürzer als erwartet. Nach 20 Minuten hatten wir es geschafft und betraten die sandige Fläche. Wir gaben uns nicht mit den hinteren Plätzen zufrieden, sondern bahnten uns mühselig einen Weg durch die aufgeheizte Menge , bis wir ungefähr in der sechsten Reihe standen. Weiter kamen wir nicht, da uns zusammengequetschte Fans den Weg versperrtem und uns sofort böse ansahen, wenn wir einen Versuch unternahmen, ihre Mauer zu durchbrechen. Wir gaben lieber auf, da ein paar bullige Männer dabei waren. Ich sah in den Himmel, es war überraschend bewölkt, doch gleich widmete ich meine Aufmerksamkeit der Bühne, denn die Vorband wurde mir lauten Jubelrufen begrüßt.

Das Konzert war ziemlich cool, es hat Spaß gemacht, zusammen mit Sophie die Texte mitzuschreien. Sie hatte zu Beginn noch ein paar Freunde ihrer älteren Schwester getroffen, die ich alle nicht kannte. Ein großer Mann, der um die 20 Jahre alt sein musste, machte sich permanent an sie ran. Gegen Ende fragte Sophie mich, ob ich Lust hätte, nach dem Konzert noch in eine Disco zu gehen. So etwas war nicht unbedingt mein Ding, darum sagte ich ihr, dass ich dann gleich nach Hause gehen würde. Ungefähr ab der Hälfte des Konzertes begann es zu regnen, was dem Ganzen seine typische Atmosphäre verlieh. Nach gefühlten 20 Zugaben endete es, mittlerweile war es 22:45 Uhr. Das Konzert fand etwas abgelegen statt, hierher war die Busverbindung also nicht sonderlich günstig. Der Busplan verriet mir, dass der nächste Nachtbus erst um 00:38 Uhr fahren würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu laufen. Mit Sophie zusammen hätte das kein Problem für mich dargestellt, aber so mutterseelenallein durch die Dunkelheit zu gehen, war mir noch nie so ganz geheuer. Zu allem Übel zog jetzt auch noch ein Gewitter auf. Ich verfluchte Sophie innerlich dafür, dass sie mich allein gelassen hatte. Vielleicht war das egoistisch und vielleicht hätte ich es an ihrer Stelle auch getan, aber das änderte jetzt auch nichts an der Situation. Ich schätzte, dass ich ca. eine Stunde bis nach Hause brauchen müsste. Ich hatte mich bereits so weit vom Konzertgelände entfernt, dass ich ganz allein auf der schwach beleuchteten Straße war. Sehr selten fuhr ein Auto vorbei, links neben mir lag ein dunkler Wald und rechts befanden sich Industriegebäude. In dieser verlassenen Gegend wurde mir ganz mulmig zumute und ich wünschte mir einen Teleportationsapparat. Über mir donnerte es bedrohlich, ab und zu schlug ein Blitz ein, was den Wald jedes Mal in ein gespensterisches Bild verwandelte. Vom Springen auf dem Konzert taten mir die Füße weh und meine Haare sowie meine Kleidung klebten klitschnass an mir. Mit meiner verlaufenen Schminke muss ich absolout furchteinflößend ausgesehen haben. Das war mir aber egal, denn mich sah ja onehin niemand. Ich lief immer weiter und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Irgendwann bemerkte ich, dass mein Schnürsenkel sich gelöst hatte und hockte mich an den Straßenrand, um meine Schuhe wieder zuzubinden. Ich sah, wie der Asphalt vor mir heller wurde und drehte mich um, sodass ich von zwei Scheinwerfern geblendet wurde. Ich kniff die Augen zusammen und stand auf. Das Auto vor mir hielt an und ich bekam Panik. Was, wenn es sich um einen Vergewaltiger handelte? Verzweifelt sah ich mich um. Es war außer mir und dem Menschen im Auto niemand zu sehen. Ich merkte, wie mein Herz mir bis zum Hals schlug. Meine Füße fühlten sich an wie taub, als ich anfing zu rennen. Nach wenigen Sekunden sah ich nur noch, wie der Asphalt sich näherte und riss gerade rechtzeitig die Arme nach vorn und konnte mich mit den Händen abstützen. Ich blieb liegen, durch den Schock zu schwach zum Aufstehen. Voller Angst kauerte ich auf der nassen Straße und hörte, wie sich jemand mit langen Schritten näherte.

Vernunft und TriebWhere stories live. Discover now