Unterm roten Mistelzweig

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Du hast dich also entschieden noch schnell etwas zu trinken und unter dem Mistelzweig mit der roten Schleife herzugehen...

Eines war klar: Mit so trockener Kehle würdest du kaum ein vernünftiges Wort herausbringen. Also entschiedst du dich kurz entschlossen, dass es besser wäre, erst einmal einen Schluck zu trinken, ehe du den Earl zur Rede stelltest. Noch hatte der Earl dich ja nicht bemerkt und würde sich somit auch nicht über dein Verhalten wundern. Du atmetest tief durch und steuertest den Tisch mit den Gläsern an, doch erreichen solltest du es nicht mehr.

Du hattest den Torbogen gerade erreicht, als jemand ganz plötzlich direkt vor dich trat. Im ersten Moment warst du so überrascht, dass du beinahe in diese Person hineingelaufen wärst, die so unvermittelt vor dir stand und dir den Weg versperrte. Es dauerte noch einen weiteren Moment bis du erkanntest, wer es war, der dort vor dir stand. Sebastian Michaelis, Earl Phantomhives Butler.

Deine Kehle fühlte sich jetzt noch trockener an und du warst heilfroh, dass der hochgewachsene Butler mit dem rabenschwarzen Haar als erster etwas sagte, denn dir fiel partout nichts ein. „Milady, welch Freude Euch zu sehen." „Se-sebastian. Es ist auch schön, Euch zu sehen", brachtest du nervös hervor und fingst dich wieder ein wenig. „Gefällt Euch der Ball bisher?" Täuschtest du dich oder wurde sein Lächeln gerade eine Spur breiter? „Ja, sehr und jetzt noch mehr, wo ich Eurer erneut ansichtig werden darf." Ein amüsiertes Glucksen ertönte seitens des Butlers, der einen kurzen Blick nach oben über euch beide warft.

Dir fiel diese Geste allerdings nicht einmal auf und so wolltest du schon fragen, ob es denn dem Earl auch gefalle, da fuhr er fort: „Besonders unter diesen... Umständen." Deine Verwirrung zeigte sich offen auf deinem Gesicht, doch Sebastian blickte noch einmal vielsagend nach oben. Als du seinem Blick nun folgtest, bemerktest du auch, worauf er eigentlich hinauswollte. Direkt über euch beiden baumelte ein Mistelzweig, um den eine große rote Schleife gewunden war. Ein Mistelzweig...

War das sein Ernst? Dir schossen tausend Fragen dieser Art durch den Kopf und nicht einmal, weil Sebastian Michaelis kein Adeliger, sondern bloß ein Butler war und somit selbstverständlich jemand, der es unter anderen Umständen niemals wagen würde, einen Kuss von einer adeligen Dame wie dir zu erbitten! Allein die Vorstellung war absurd, völlig undenkbar und abwegig. Sebastian wusste das doch sicherlich ohne jede Frage auch!

Tonlos öffnetest du den Mund und brachtest doch keinen Ton heraus. Wieder rettete der wortgewandte Butler dich, dessen Augen im warmen Kerzenschein tatsächlich tiefrot aussahen. Waren sich nicht eher so kastanienbraun? Das musstest du dir einbilden, doch dieses Rot wirkte beinahe dämonisch und gepaart mit dem Lächeln auf des Butlers Zügen schon fast ein wenig unheimlich.

Es war sein ernst und er sagte das nicht nur, sondern handelte zu deiner völligen Überraschung sogar. Noch ehe du etwas sagen oder gar protestieren konntest, hatte die Hand des Mannes ihren Weg in deinen Rücken gefunden, sodass er dich an sich heranziehen konnte. Die andere, freie Hand hatte Sebastian an dein Kinn gelegt, um dieses zu heben, sodass du seinem intensiven, durchdringenden Blick nicht mehr ausweichen konntest.

Du hättest es auch dann nicht gekonnt, hätte er dich nicht festgehalten. Allein der Blick aus diesen mysteriösen Augen hätte genügt, damit du sofort vergessen hättest, wo du warst und dass du gehen könntest. Ein wenig schien es dir, als könnte der Butler mit diesen Augen durch dich hindurchsehen und in dich hinein bis auf den Abgrund deiner Seele.

Ob der Earl sich auch so fühlte, wenn er mit Sebastian sprach, ging es dir absurderweise durch den Kopf. Doch es erinnerte dich auch an dein eigentliches Ziel: Du wolltest mit dem Earl sprechen! Beinahe hättest du dir innerlich wieder vor die Stirn geschlagen. War das denn so wichtig? Worüber wolltest du denn mit ihm sprechen? Lizzy? Es war nicht unwahrscheinlich, dass er dann erzürnte und womöglich ginge. Sah man davon ab, dass du das nicht wolltest, würde es dem Ruf deiner Familie immens schaden, wenn ein so mächtiger Earl wie Earl Phantomhive wütend dein Fest verließ.

An diesem Punkt endeten deine Überlegungen abrupt. Der Butler, den du in deinen Überlegungen nicht bedacht hattest, unterbrach sie in nur einem Sekundenbruchteil. Warm legten sich seine Lippen auf deine und als du verstandest, was hier gerade geschah, weiteten sich deine Augen vor Schreck.

Nicht, dass du Sebastian nicht attraktiv und anziehend fändest – das war er, sehr sogar! - doch trotz seines Hinweises auf den Mistelzweig, der über euch baumelte, hättest du nie im Leben damit gerechnet, dass er, ein Butler eines hohen Hauses, sich erdreisten könnte, dich tatsächlich zu küssen – Mistelzweig hin, Mistelzweig her. Ganz offenkundig hattest du ihn falsch eingeschätzt und wäre dein Kopf nicht schlagartig wie leer gefegt gewesen, hättest du dich womöglich gefragt, wieso er es riskierte, dich zu küssen und ob ihm nicht klar war, welche Folgen dies für ihn haben könnte.

Eisige und heiße Schauer wechselten sich ab und durchfuhren dich, dass es dich schauderte und dir gleichzeitig heiße Röte in die Wangen trieb. So hattest du dich noch nie gefühlt, nicht einmal ansatzweise. In deinem Bauch schien ein ganzer Schwarm Schmetterlinge aufgestoben zu sein, der nun wild herumflatterte und dich ganz unruhig machte.

Als Sebastian den Kuss löste, stockte dir noch immer der Atem. Sein Kuss war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend gewesen. Nicht, wie du es dir immer vorgestellt hattest. Ein bloßes Lippen aufeinander pressen – nein, ein richtiger Kuss, der einen ganz schwindelig werden ließ und die Sinne verwirrte. Ganz wie in den romantischen Büchern, von denen auch du schon das eine oder andere gelesen hattest. Eigentlich sogar besser, denn so benebelt und wie aus einer anderen Welt du dich fühltest, war es unglaublich, dass es wirklich Jeder so erlebte.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, die doch am Ende nur wenige Sekunden andauerte, fandest du deine Sprache wieder. „Sebastian...", begannst du noch immer etwas atemlos. Ganz anders als du, die du dich völlig aufgewühlt und ganz aus der Fassung gebracht fühltest, wirkte der Butler absolut ruhig und gelassen. Er war die Selbstbeherrschung in Person, wenngleich sein selbstzufriedenes und siegessicheres Schmunzeln verriet, dass du dir diesen unglaublichen Kuss nicht eingebildet hattest.

„Shh..." Er legte den Zeigefinger auf deine Lippen und brachte dich zum Schweigen, noch ehe du wirklich etwas gesagt hattest und der Blick, den ihr tauschtet, sagte ohnehin genug, sodass es auch keiner Worte bedurfte.

Nie hättest du gedacht, dass an dem kitschigen Spruch 'Ein Kuss sagt mehr als tausend Worte' tatsächlich etwas dran sein könnte. Hätte man dich noch vor wenigen Minuten gefragt, hättest du es als hübsche Metapher abgetan, doch nun sahst du das anders. Sebastian Michaelis' Kuss hatte dein Weltbild in einigen Ebenen gründlich erschüttert und zwar durch und durch auf eine gute Weise, wie du fandest.

Eine ganze Weile standet ihr nur voreinander und saht einander in die Augen. Du fielst förmlich in die roten Iridien des Butlers, nicht ahnend, dass deine Überlegung, dass er einfach teuflisch gut aussah und diese Augen dies nur unterstrichen, der Wahrheit näher kam, als du dir jemals erträumen ließest.

„Nun, meine Schöne..." Sebastian warf einen Blick über die Schulter und seufzte leise, ehe er in bedauerndem Tonfall fortfuhr: „Mir scheint, mein junger Herr möchte gehen." Nur kurz verschwand das Lächeln von seinen Lippen. „Ich hoffe auf unser baldiges Wiedersehen, Milady." Formvollendet verbeugte er sich vor dir als wäre nichts gewesen und als hätte es diesen Kuss zwischen euch nicht gegeben. Für einen Augenblick kamen dir Zweifel, ob es für ihn wirklich nur irgendein Kuss gewesen sein könnte, den er unter einem Mistelzweig gab, doch dann wäre er das Risiko seinen Job zu verlieren, dafür wohl kaum eingegangen.

Unsicher sahst du ihm nach, kaum noch im Stande die Worte „Das wäre sehr schön", zu murmeln und dabei mit der roten Schleife, die über deinem Kopf baumelte, um die Wette zu leuchten.

Du ahntest ja nicht, dass der Earl euch gesehen hatte und nur allein deshalb jetzt den Wunsch verspürte, zu gehen. Und noch weniger ahntest du, dass Sebastian Michaelis, ein Teufel, tatsächlich ein Auge auf dich, einen Menschen geworfen hatte und nicht nur auf deine Seele. Bemerkenswert, beachtete man, dass er in den meisten Menschen nur dies sah: Eine Seele, die man verschlingen konnte. Doch du hattest etwas verändert, ihn verändert, ganz ohne es zu wissen.

Wenn du es auch nicht ahntest, der Earl tat es und es ärgerte ihn. Nicht, weil er fürchtete, der Teufel könne ihren Pakt brechen, sondern weil er um dich fürchtete und darum, dass dich der teuflische Butler in seine dunklen Fänge zöge, ehe er dir den Antrag machen konnte, von dem er sich eine Zusage erhoffte.

Unterm Mistelzweig (Ciel/Sebastian x Reader)Where stories live. Discover now