Unterm weißen Mistelzweig

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Du hast dich also entschieden direkt auf den Earl zuzugehen und unter dem Mitselzweig mit der weißen Schleife her...


Ach was, entschiedst du. Zwar kratzte dein Hals, aber wenn du jetzt auch noch Sekt trankst, dann würdest du nur noch aufstoßen müssen oder sogar rülpsen – und das wieder wäre wirklich ganz und gar nicht damenhaft und somit eine Katastrophe! Allein die Vorstellung trieb dir leichte Schamesröte ins Gesicht. Nein, nein, besser nicht. Auch wenn du einen gewissen Groll gegen den Earl hegtest dafür, was er Lizzy angetan hatte, wolltest du dich noch lange nicht vor ihm bis auf die Knochen blamieren! Dafür warst du dann doch bei Weitem zu stolz.

Entschlossen schrittst du auf eben diesen Earl nun aber zu und konntest nicht einmal genau sagen, weshalb. Deine Gedanken rasten, während du überlegtest, worüber du mit dem jungen Mann sprechen könntest, ohne dass es verfänglich klang oder ihm verriet, wie nervös dich der Blick machte, mit dem er dich auch jetzt maß.

Hattest du jemals solch tiefblaue Augen gesehen – oder vielmehr ein so tiefblaues Auge, verbarg der Earl doch das andere unter einer Augenklappe. Lizzy hatte dir die Geschichte erzählt. Nichtsdestotrotz war der Earl ohne jede Frage ein attraktiver junger Mann, ging es dir durch den Kopf. Ein wenig weich wurden dir die Knie schon, jetzt, wo er sich zu dir herumgedreht hatte und dich direkt ansah.

Er musste wohl bemerkt haben, dass du zu ihm wolltest. Oder aber, er hatte dich abfangen wollen, ehe du an ihm vorbeirauschtest, denn er kam dir sogar entgegen. Dir allerdings entging das völlig. Zu sehr warst du mit deinen eigenen Überlegungen und Gedanken beschäftigt gewesen. Ihr traft euch genau unter dem Torbogen und er Earl zeigte eine höfliche Verneigung, die du praktisch gleichzeitig mit einem Knicks quittiertest.

„Milady." Eure Blicke trafen sich und sofort stob ein ganzer Schwarm Schmetterlinge in deinem Bauch auf und begann, wild herumzuflattern. Der Earl faszinierte dich, dessen warst du dir bewusst, doch du wolltest ihn nicht mögen. Auf gar keinen Fall. Er war immerhin derjenige, der Lizzy hatte sitzen lassen und die war schließlich deine beste Freundin! Niemals könntest du ihr das antun! So etwas taten Freunde einfach nicht. Du fühltest dich schuldig, obwohl du eigentlich noch nichts gesagt oder getan hattest, dessen du dich schuldig fühlen müsstest. Doch allein, dass du den Earl mochtest und ihn anziehend fandest, genügte für dich schon. So solltest du ihn einfach nicht sehen. Nach dem heutigen Abend würde er sowieso aus deinem Leben verschwinden – genauso schnell, wie er hineingetreten war. Oder vielmehr: so schnell, wie du in seines getreten warst.

„Earl Phantomhive." Dein Lächeln fiel nur halb so selbstsicher aus, wie du es dir erhofft hattest, das konntest du ihm an der Nasenspitze ansehen – und seinem Butler ebenfalls, der sichtlich ein Schmunzeln zurückhielt, was ihm nicht gänzlich gelang. Verdammt, war es denn so offensichtlich? Du schaltest dich innerlich für deine Ungeschicklichkeit. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, dem Earl einfach aus dem Weg zu gehen und dich den anderen Gästen des Abends zu widmen. Vielleicht. Doch nun war es für diese Entscheidung wohl zu spät.

„Mir scheint Milady, der heutige Abend bringt uns näher, als zunächst angenommen", ergriff Ciel das Wort, als sich eine drückende Stille zwischen euch beiden zu bilden drohte. Mit seiner Aussage hatte er der Earl wohl Recht. Bestimmt war ihm auch klar, dass du was die gelöste Verlobung betraf selbstverständlich auf Lizzys Seite stündest und ihn schon allein deshalb meiden würdest – und doch warst du es gewesen, die auf ihn zugekommen war.

„Nun, ich war es schließlich, die Euch einlud, Earl Phantomhive. Was wäre ich für eine Gastgeberin, würde ich einen Gast vernachlässigen?" Doch das meinte der junge Mann überhaupt nicht. Dir wurde das allerdings erst klar, als sich zuerst Verwirrung, dann Amüsement auf den Zügen Ciels zeigte.

Was er allerdings meinte, war dir auch dann noch nicht klar. Erst als der Earl vielsagend nach oben blickte, oben an den Torbogen, unter dem ihr standet, dämmerte dir, was er dir mitteilen wollte. Es war schon ironisch, immerhin hattest du selbst für dieses Arrangement gesorgt und sogar tatsächlich wegen dem Earl. Allerdings für Lizzy. Du selbst hattest daran nicht teilhaben wollen.

Direkt über euren Köpfen baumelte ein Mistelzweig von saftigem Grün, der mit einem breiten weißen Schleifenband umwickelt war und am Torbogen befestigt. Die meisten dieser Mistelzweige hattest du sogar selbst aufgehängt – erst gestern. Diesen vermutlich auch. Wie hatte dir entgehen können, dass du dich direkt unter einem befandest.

Langsam dämmerte ihr auch die Bedeutung, die bereits von vielen Paaren – alten Ehepaaren bis frisch bekannten – eifrig praktiziert wurde. Vor deinem inneren Auge erinnertest du dich an die Planung gemeinsam mit Lizzy, wie du ihr versprachst, extra für sie besonders viele Mistelzweige aufzuhängen, damit sie ihren Verlobten endlich einmal küssen könnte, der sich bisher solchen Zuneigungsbekundungen entzogen hatte.

Der Earl meinte doch nicht etwa...? Er hatte Lizzy schließlich all die Jahre nicht küssen wollen und du warst obendrein eine Fremde und nicht seine Verlobte! Du öffnetest den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Ton wollte heraus kommen, als Ciel mit einem Schmunzeln näher an dich herantrat, das verriet, dass er genau wusste, dass dich die Situation ganz durcheinander brachte. „Wenn Ihr erlaubt..."

Dir blieb nur ein Augenblick, um zu protestieren, hättest du es denn gewollt. Wolltest du es denn? Oder nicht? Hätte man dich gefragt, hättest du vermutlich keine richtige Antwort gewusst und am Ende aus Prinzip schon gesagt, dass du selbstverständlich protestiert hättest. Um Lizzys Willen. Der Earl gab dir jedoch nicht genug Zeit, um darüber länger nachzudenken. Sein Arm fand den Weg um deine Hüfte und ehe du auch nur daran denken konntest, zu argumentieren, und er neigte sich in deine Richtung. Die Blicke seines Butlers, der ganz unverhohlen unzufrieden dreinsah, bemerktet ihr beide nicht. Ciel, weil er ihm den Rücken zuwandte (und es wäre ihm wohl eh gleichgültig gewesen) und du, weil du viel zu aufgekratzt warst von dem Fakt, dass der Earl sich zu dir neigte.

Es war dein erster Kuss und er war genauso magisch, wie du es dir immer erträumt hattest. Er war genauso, wie es die Romane beschrieben, die deine Mutter so gerne las und in die auch du den einen oder anderen Blick geworfen hattest. Das Kribbeln, das die Berührung eurer Lippen auslöste, breitete sich in deinem ganzen Körper aus und zog sich bis in deine Zehenspitzen. Deine Augen fügten sich dem Zauber des Augenblicks und schlossen sich von ganz allein.

Der Kuss währte nur einen kurzen Moment, doch als sich danach eure Blicke trafen, bedurfte es keiner Worte. Du wusstest einfach, dass Ciel ähnlich empfinden musste, wie du. Röte zog sich über deine Wangen und erhitzte diese und selbst der Earl war nicht ganz frei von einem rötlichen Hauch. Ob es wohl auch für ihn der erste Kuss gewesen war? Vermutlich, wenn er doch Lizzy nicht geküsst hatte, die seine Verlobte gewesen war.

Stille legte sich über euch wie ein Schleier, der euch vom Rest der Welt abschirmte und selbst den Klang der Musik, die spielte, dumpf erscheinen ließ. Ciel war es, der sie durchbrach. „Ich nehme an, Ihr habt keine Einwände", begann er mit selbstbewusstem Klang, „wenn ich um Euch werbe. Mit Eurer Zustimmung werde ich bei Eurem Vater um Eure Hand anhalten."

Du ahntest nicht, dass er diesen Gedanken schon kurz nach eurem ersten Treffen gefasst hatte. Auch wenn ihr euch vorher niemals gesprochen hattet, so hatte Ciel doch einiges über dich gewusst, denn immer, wenn ihn Lizzy besuchte, hatte sie von dir berichtet und so hatte er irgendwann, aus reiner Neugier, selbst ein wenig Nachforschungen über dich angestellt. Schließlich hatte er dich auf der einen oder anderen Feier, um die er sich nicht hatte drücken können, beobachtet und schließlich zugeben müssen, dass du ihn fasziniertest.

Als ihr euch dann traft, war für ihn schnell klar gewesen, dass du nicht irgendeine Frau warst, sondern die eine, die er wollte. Die eine, der es gelang, ihn in ihren Bann zu ziehen. Nur deshalb hatte er schlussendlich die Verlobung gelöst, die ihm doch schon lange nichts mehr bedeutet hatte – seit er erkannt hatte, dass er Lizzy – nein, Elizabeth – nicht so liebte, wie sie ihn. Du hingegen... du hattest ihn schneller erobert, als es der strenge, ernst junge Mann jemals für möglich gehalten hätte. Du hattest ihn einfach überwältigt. Während du versuchtest, ihn davon zu überzeugen, hierher zu kommen, hatte er innerlich längst zugestimmt und überlegt, wie er dir am besten näher käme.

Vielleicht... eines Tages, später... an einem ruhigen Abend am Kamin würde er dir davon erzählen und dir gestehen, wie sehr er dich von Anfang an begehrt hatte. Seit er dich kannte. Noch ehe du ihn zum ersten Mal sahst. Doch nicht, ehe nicht an deinem Finger der Ring steckte, den er für dich aussuchen würde und er stolz sagen könnte, du seist die Lady Phantomhive.

Unterm Mistelzweig (Ciel/Sebastian x Reader)Where stories live. Discover now