1 ~ Mysteria

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"Ist sie nicht noch zu jung?"
"Ach was, sie ist genauso alt, wie wir es waren!"
"Aber was ist mit ihrer Seele? Sie ist noch zu schwach!"
"Und was ist mit gestern? Da hat sie ein Messer an die Wand geworfen und es ist stecken geblieben! Oder vor drei Tagen, als sie das Wasser aus den Blumen gesogen und unsere Giesskanne damit gefüllt hat! Der Beste war immernoch, als sie dieses lästige Biest in die Luft gejagt hat!"
Mysteria wurde von dem Gespräch zweier Stimmen, auf dem Gang, geweckt. Müde blinzelnd, registrierte sie, dass ihre Cousinen, Lithium und Onyxia sich stritten. Und sie stritten sich über sie.

Die komischen Vorfälle, die Lithium und Onyxia erwähnten, waren noch öfters vorgekommen, die Mysteria sich nicht erklären konnte.
Vor drei Monaten hatte sie zum ersten Mal etwas seltsames angerichtet. Sie verwandelte ein Plüschtier, eine sonnengelbe, flauschige, grosse, etwa ein Meter lange Schlange mit orangen Punkten, in ein lebendiges Tier. Sie war erst so geschockt, dass sie losschrie. Onyxia studierte an der Fowel, einer Universität, und Lithium war gerade einkaufen gegangen, weshalb Mysteria ganz alleine in dem grossen, viktorianischem Haus war. Doch das zischende Tier verwandelte sich schnell wieder zurück, als wäre es erschroken von dem schrillen Kinderschrei und Mysteria redete sich ein, alles nur eingebildet zu haben.
Vor einer Woche hatte ein Hund, der ihre Katze jagte, sie so wütend gemacht, dass sie ihn erst mit Steinen und Stöcken beworfen hatte. Als der Hund sie anknurrte, wurde er immer dicker, wie ein Ballon, den man aufblies - bis er platzte. Entsetzt war Mysteria hastig ins Haus gerannt war und hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen. Den Rest des Tages weigerte sie sich herauszukommen und schrie wie am Spiess, wenn die Tür geöffnet wurde, aus Angst das Gleiche könnte mit ihren geliebten Cousinen passieren.

Mysteria schüttelte den Kopf. Schluss jetzt!
Es war früh am Morgen. So früh, dass der Himmel sich langsam rosa färbte und die Sonne noch nicht über die Hügel gestiegen war, in dessen Senke das einsame Haus der Woodrow lag.
Die Tür wurde aufgemacht und Mysteria schloss schnell die Augen, damit es so aussah, als schliefe sie noch. Sie hörte die Absätze der schweren Schuhen, als vier Füsse sich auf das kleine Bett zubewegten. Einer der beiden Mädchen rüttelte sanft ihre Schulter. "Aufgewacht, Süsse, wir machen einen Ausflug!" Als Mysteria wieder die neonblauen Augen aufschlug, grinsten die Zwillinge sie an und sie selbst konnte nur das Gesicht verziehen. Mit Weiterschlafen war wohl nichts.

Nach einem Frühstück, bei dem sie vor Müdigkeit fast die Schüssel Cornflakes fallen liess, trug Lithium das zehnjährige Mädchen zum Waldrand. Onyxia trug einen grossen Rucksack, der aussah, als wollten sie einen Campingausflug machen, über ihrem schwarzen Mantel. Mysteria hatte Mühe die Augen offen zu halten. Immer wieder sackte ihr Kopf an Lithiums Schulter, woraufhin sie durchgeschüttelt wurde und Lithium lachte, wenn Mysteria grummelnd protestierte. Die Zwillinge sahen aus, wie Kopfgeldjägerinnen. Lithiums schwarze Haare hatten dunkelvioletten Strähnen, die wie bunte Schlangen an ihrem Kopf hingen. Onyxia hatte meerblaue Strähnen. Beide trugen die hüftlangen Haare offen und ihre Kleider waren schwarz. Die Lederstiefel reichten bis zu den Knien und Mysteria hatte den Verdacht, dass die 17-Jährigen unter dem Mantel einen Waffengurt versteckten. Onyxia verschwand zwischen den Bäumen, die blaue Farbe leuchtete zwischen den Blättern, während Lithium, Mysteria absetzte und ihr sanft durchs nussbraune Haar fuhr. "Was machen wir hier?", fragte die Kleine mit verschlafener Stimme. Lithium lächelte sie liebevoll an und sagte geheimnissvoll: "Myssie, du wirst eine von uns."

Was Lithium damit meinte, wusste Mysteria nicht. Doch bevor sie fragen konnte, zog Lithium sie schon in den Wald, in die Richtung, in der vor wenigen Sekunden Onyxia eingeschlagen hatte. Eine Art Spannung lag in der Luft, als ständen sie nicht unter einem wolkenlosen Himmel, sondern unter einem Magnetfeld. Mysteria meinte, hier und da ein Knistern zu hören, doch es war bestimmt nur ein Tier im Dickicht.
Lithium murmelte einige Worte, die Mysteria nicht verstand. Doch sie meinte das Wort «Schutz» zu hören.

Onyxia hatte auf den Boden drei Dinge sorgfältig der Grösse nach, hingelegt. Ein Dolch mit blassblauem Griff, eine rote Kerze und ein schwarzer Stein. Sie nickte Lithium zu und stellte sich gegenüber von ihnen. "Mysteria, nimm die Sachen. Den Dolch gibst du Onyxia, die Kerze mir. Den Stein behältst du und stellst dich dort hin. Stell keine Fragen, du wirst schon früh genug verstehen." Lithium zeigte dorthin, wo die Gegenstände lagen. Mit einem fragenden Gesichtsausdruck und einer Menge Verwirrung tat Mysteria, wie ihr geheissen und stellte sich auf den von Lithium gezeigten Platz, hin.

Die drei Mädchen standen jetzt in einem Dreieck, zwischen ihnen je drei Meter Abstand. Onyxia began zu murmeln, den Dolch eine Armlänge von sich, zur Mitte hin gestreckt, die sturmwolkenfarbenen Augen fest darauf gerichtet. Dann liess sie den Dolch los und Mysteria schnappte nach Luft. Die Waffe blieb in der Luft stehen! Lithium machte ihre Schwester nach. Jedoch liess sie die Kerze nicht los, stattdessen entfachte sich, wie von Zauberhand, eine orange-gebliche Flamme, die im sanften Wind hin und her zuckte. "Leg den Stein auf den Boden", flüsterte Onyxia und sah Mysteria an. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passierte und legte den Stein auf den Boden. Kaum, dass Mysteria sich wieder aufgerichtet hatte, verschwand der Stein in der Erde. Mysteria musste sich grosse Mühe geben, keine Fragen zu stellen. Inzwischen waberte knöchelhoher, dichter Nebel, wie eine anthrazitfarbene Wolke über den Boden. Ein Ast schlängelte sich rechts an Lithiums Gesicht vorbei und wickelte sich um die Kerze, wie ein brauner, mit Flechten überzogener Kerzenhalter. "Danke schön", flüsterte Lithium lächelnd.

Sie und Onyxia traten näher in die Mitte und legten ihre Hände übereinander. Mit einem erwartungsvollen Blick sahen sie die schüchterne Mysteria an, die zögerlich ihre Hände zuoberst legte.
In ihrem Bauch began es zu kribbeln und sie bekam eine Gänsehaut.
"Innocentiam. Vitae. Tenebris. Mortem", murmelten die Zwillinge mit geschlossenen Augen immer wieder.
Obwohl Mysteria die Worte zum ersten Mal hörte, verstand sie jedes Wort. Es war Latein und hiess übersetzt:

Unschuld.
Leben.
Dunkelheit.
Tod.

Innocentiam.
Vitae.
Tenebris.
Mortem.

Nach der dritten Wiederholung hob Onyxia die rechte und Lithium die linke Hand und beide legten die Hände auf Mysterias schmalen Schultern.
"Innocentiam. Vitae. Tenebris. Morten."
Das kleine Mädchen hatte das Gefühl zu fliegen. Ihre Füsse berührten den Boden nicht mehr. Sie hörte Stimmen. Viele, alte Stimmen, die ihr eine Geschichte erzählten.
"Innocentiam. Vitae. Tenebris. Mortem."
Die mächtigen, lauten Stimmen übertönten die gemurmelten Worte der Zwillinge und malten Bilder vor Mysterias geistigem Auge, die sie gespannt mitverfolgte.
"Innocentiam. Vitae. Tenebris. Mortem. Potestatem."
Noch bevor die Geschichte zu Ende ging, verschwand alles. Das Mädchen blinzelte ein paar Mal verwirrt und sah die Zwillinge an.

Macht.
Protestatem.

Sie öffnete den Mund, doch Onyxia kam ihr zuvor. "Nicht vergessen: Keine Fragen, Myssie." Daraufhin schloss Mysteria den Mund wieder. Onyxia lächelte. "Der Erde hast du einen Stein geschenkt. Dem Feuer wurde eine Kerze angezündet. Der Dolch symbolisiert die Macht des Element Lufts. Der Nebel kann nur mit Hilfe von Wasser erzeugt werden. Die Sonne steht für Licht, der Schatten für Dunkelheit. Das letzte Element, meine Süsse, ist der Geist", sagte Onyxia und sah dem Mädchen fest in die Augen.
Lithium fuhr mit ihrem rechten Zeigefinger über Mysterias linkes Schlüsselbein. Es brannte und sie zuckte mit grossen Augen zurück, doch sie sagte nichts. Mysteria war schon immer merkwürdig schweigsam gewesen, doch es gab auch Tage, da wünschte man sich, dass sie die Klappe hielt.
Lithium lächelte sie an. "Schliess deine Augen, Myssie, und lass deinen Gedanken freien Lauf. Jedoch, ohne eine Wort zu sagen."

Die Chroniken der SchattenwesenWhere stories live. Discover now