November

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Milo

Sie hat mich gerettet.
Und dann bin ich an ihr zerbrochen.
Wir sind aneinander zerbrochen.
Aber wir haben uns geliebt.
Eigentlich tun wir das immer noch.
~~~~~~~~~~

Ich stand ganz oben auf der Mauer, der Wind wirbelte mir Schneeflocken ins Gesicht und die Kälte brannte auf meiner Haut. Ich blickte nach unten, 20 Meter trennten mich vom Boden.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten.
War ich bereit zu sterben? So oft war ich in meinen Träumen gesprungen, gefallen und gestorben.
Ich atmete die kalte Luft ein, es fühlte sich an, als wäre meine Lunge gefroren.
Ich trat bis ganz nach vorne an den Rand, Tränen liefen nun heiß und salzig über mein Gesicht und fielen in den Abgrund.

Plötzlich spürte ich, wie mich arme umschlossen und nach hinten rissen.
Ich fiel in den Schnee und blickte für einen Moment in den Himmel, Schneeflocken tobten durch die Luft und alles war still. Ich hörte nur meinen keuchenden Atem.
Dann umfassten zwei Hände mein Gesicht.
"Bist du okay?"
Ich nickte. Neben mir kniete ein Mädchen, schön wie der Schnee selbst.
Ihr Haar war lang, seidig und genauso weiß wie ihre Haut und ihre Wimpern, in ihren Augen, so blau wie der Himmel, lag Sorge und ganz tief in ihnen, meinte ich brennenden Schmerz zu sehen.
"Du willst nicht springen."
Ihre Stimme war sanft und melodisch.
"Nichts hält mich."
Meine Stimme klang rau und zittrig.
"Doch."
Sie umfasste meine Hände, "ich halte dich."
"Hattest du je den Wunsch zu sterben?"
Die Frage kam einfach über meine Lippen.
"Ja, viele Male. Aber jedes Mal lache ich dem Tod ins Gesicht und sage 'heute nicht'"
Schweigend blickten wir uns an, unser Atem bildete Wölkchen in der kalten Luft.
Um uns tobte der Winter, doch für einen Moment verblasste alles, außer ihr Gesicht.
Sie war selten so schön wie in diesem Moment, sie schien eins mit dem Schnee zu sein, die Kälte schien ihr nichts anhaben zu können, sie wirkte makellos, vollkommen, doch etwas in ihren Augen irritierter mich.
Sie waren wunderschön, doch schien unendlicher Kummer in ihnen zu liegen.

Mein nächster Satz veränderte mein ganzes Leben. Brachte alles durcheinander. Mein Leben wurde zu einem ungezügelten Wirbelsturm, doch das wusste ich nicht.
Selbst jetzt, wo ich es weiß, würde ich nichts ändern, ich würde immer noch genau das gleiche fragen. Denn auch, wenn ich die Antwort erst viel später bekam, setzte sich diese Frage in meinem Kopf fest und spukte durch meine Gedanken.

"Was ist deine Geschichte?"

Ihre Pupillen weiteten sich, ansonsten sah ich ihr keine Regung an.
Ich biss mir auf die Unterlippe, ich hätte das nicht fragen sollen, aber es war mir einfach rausgerutscht.
Ich kannte sie gar nicht und fragte dann sowas.
"Ist das das erste, was man seine Retterin fragt?"
Ihre Stimme klang distanziert und kälter als zuvor.
"Es tut mir leid. Ich sage oft das, was ich grade denke. Es war falsch."
Ich blickte in den Schnee.
"Weiß du", sagte sie, "ich könnte dich das gleiche fragen. Was zur Hölle sollte das da oben?"
Ich sah zu ihr, konnte jedoch nichts in ihrem Gesicht lesen, keine Regung verrat, was sie dachte.
"Ich wollte springen, frei sein", meine Stimme war kaum mehr als ein flüstern, "ich kann nicht mehr."

Erneut schwiegen wir.
"Du wärst nicht gesprungen."
"Das kannst du nicht wissen."
"Doch, das kann ich. Du standest so lange dort", ihr Blick glitt zur Mauer, " du bist noch nicht an der Reihe zu sterben."
Ich erwiderte nichts, ich wusste, dass sie recht hatte.
Es war nicht das erste mal, dass ich dort oben stand, ich war nie gesprungen. Auch heute hätte ich es vermutlich nicht getan.

"Wo wohnst du?"
"Ich hab kein Zuhause."
Erstaunt sah sie mich an, "jeder hat ein Zuhause."
"Ich nicht. Ich schlafe ab und zu bei Freunden, aber wirklich wohnen tue ich nirgens."

Sie holte tief Luft, sie schien mit sich zu ringen, ein innerer Konflikt tobte in ihren Augen.
"Na gut. Dann kommst du mit zu mir. Du musst ins warme."
Sie guckte mich noch einmal an, dann lief sie los und ich folgte ihr.
"Wie heißt du?", fragte ich sie, als ich neben ihr her lief.
"November."

NovemberWhere stories live. Discover now