Wäre nicht alles so tragisch, hätte Leander darüber gelacht. Aber jetzt war ihm nicht unbedingt zum Lachen zumute.

Der Gott winkte Leander mit der rechten Hand zu, während er kichernd weiter nach oben flog. Kurz folgte Leander ihm mit seinen Augen bis sein Körper in den Wolken verschwand, dann rannte er zu den beiden Leblosen.

Er stürzte zuerst zu Cal, weil er bei Leya genau sehen konnte, dass sie noch atmete. Ihr nackter Brustkorb hob und senkte sich sogar noch recht stark. Aber bei Cal war da nichts mehr.

Leander ließ sich zwischen die beiden Liebenden sinken. Sein Bruder hatte seinen Blick auf Leyas Gesicht gerichtet und seine weit aufgerissenen Augen starrten blicklos auf die Stelle, wo bis gerade eben noch Leyas geschlossene Lider gewesen waren, die nun von Leanders Beinen verdeckt wurden.

Leander sah, dass Cal nicht mehr atmete, aber er hatte die Hoffnung, dass zumindest sein Herz noch schlug. Als er sich gesetzt hatte, hatte er neben den tausenden Schürfwunden eine Bisswunde, die der einer Schlange glich, in seinem Bein gesehen. Daraus schloss er, dass Hermes seinen Bruder und vermutlich auch Leya, ihrem Hals nach zu urteilen, gebissen hatte. Das Gift wirkte wohl wie ein Nervengift, vielleicht in Richtung von dem der schwarzen Mamba. Es war wohl sehr schnell und heftig wirksam.

Leander beugte sich über die Brust seines Bruders, zerriss die Kleidung über seinem Herzen und drückte sein Ohr gegen seine nackte Haut. Gleichzeitig presste er seinen Mittel- und Zeigefinger auf die Halsschlagader.

Irgendwo musst doch ein kleines Pochen sein. Nur ein winziges. Bitte.

Er betete zu Göttern, Gott, Engeln oder was sonst noch alles da oben sein sollte. Sein Bruder konnte nicht tot sein. Das war nicht möglich. Doch je mehr Zeit verstrich, desto stärker fiel seine Hoffnung in sich zusammen und alles was blieb, war ein großes Loch in seiner Seele.

Tränen flossen in Strömen über sein Gesicht, ebenso wie der schmelzende Schnee, aber jetzt durfte er diesen Gefühlen nicht nachgeben, die drohten ihn zu überwältigen. Immerhin war Cal nicht der einzige Mensch auf der Klippe.

Schnell drehte sich Leander um.

Nun lag Leya vor ihm. Wie ein gefallener Engel lag sie dort im Schnee. Gebrochen und wunderschön zugleich. Hätte er nicht solche Angst um sie gehabt, er hätte das Bild bewundert.

Er konnte genau sehen, wie sich ihre entblößte Brust hob und senkte, gewillt ihren Besitzer am Leben zu erhalten. Rasch betete er ihren Kopf auf seinen Schoss, damit er besseren Zugriff auf ihren Hals und damit auf die Einbisswunde hatte.

Wenn das Gift, das zweifelsohne in Leyas Körper war, wirklich von dem Gott stammte, dann wusste Leander nur von einem Mittel, das vielleicht dagegen helfen könnte.

So schnell er konnte ließ er Silphium in seiner rechten Hand entstehen. Die Pflanze wegen der sich die Superior und Inferior schon seit der Antike - da sie dort in freien Natur ausgestorben war - bekriegten, konnte göttliche Gifte heilen zu denen wohl auch das Hermesgift zählte.

Den Blick stur auf Leya gerichtet, stopfte er sich die Blüten, eingeschlossen Stängel in den Mund und zerkaute alles zu einer hellgelben Masse. Das war zwar sicherlich nicht die beste Methode um das Gegengift aus dem Pflanzenkörper zu lösen, aber die einzige, die Leander zur Verfügung stand. Darum spuckte er die Pampe in seine Hände, drückte die eine auf Leyas Mund und die andere auf ihren Hals.

Er hatte große Angst um sie, weil ihr Atem weniger stetig geworden war und ihre Haut immer weniger Hitze abstrahlte.

Wie ein Raubtier hatte sich die Furcht in ihm aufgebaut, bereit zum Sprung. Zuerst geschah nämlich nichts. Leya lag nur weiterhin bewegungslos da, so als wäre sie bereits tot. Der Atem stockte immer mehr.

Götterstimme - Lieder der UnterweltWhere stories live. Discover now