schlachtfeld, laufsteg und lügen

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Das Reh, pardon, Luhan wurde dazu aufgefordert, sich auf den freien Platz vor mir zu setzen. Er schlenderte gemütlich zu dem Tisch und ließ sich neben Yixing nieder.

"Der sieht aus wie aus'm Modemagazin.", murmelte Jongdae, während er auf seinem Block rumkritzelte.

"Findest du?", fragte ich, den Blick an Luhan's Rücken geheftet.

"Ja, schon. Oder wie aus dem Wald geflüchtet. Er erinnert mich ehrlich gesagt an ein Reh."

Ha! Ich war also nicht der Einzige, den er an ein Reh erinnerte!

"Genau das habe ich auch geda-",

"Minseok! Jongdae! Seid endlich still! Oder könnt ihr die Aufgabe lösen?", unterbrach mich Frau Park, die mit ihren falschen Winpern rumklimperte und wütend eine Hand in ihre Hüfte stämmte.

Die halbe Klasse starrte mich an. Wahrscheinlich weil ich ein sehr ruhiger Typ war und eigentlich nie auffiel. Schnell schüttelten wir beide hastig mit dem Kopf und ich sah wieder zu Luhan, der jedoch nur nach vorne guckte.

In der Pause umringten beinahe alle den Neuen und durchlöcherten ihn mit Fragen oder bettelten um seine Nummer. Letzteres taten eher nur die Mädchen. Ich, der ruhige Dude, beschloss, dass ich einfach hier sitzenbleiben würde. Beobachten. Das tat ich. Schon immer.

Luhan's Lächeln wirkte einstudiert, es war dieses typische hey-ich-habe-Geld-Lächeln. Bestimmt hatte der Chinese nur gute Noten, war der Dreamboy hoch zehn und brach zur Abwechslung gerne mal ein paar Mädchenherzen. "Arschloch" sagten mir meine Beobachtungen und ich beließ es dabei. Schön, aber sonst nur eine leere Hülle. Ich widmete mich wieder der Trauer um meinen wenigen Kaffee heute Morgen und sah auf mein Heft vor mir.

Allmählich verließen alle Idioten, pardon Klappe zwei, Schüler den Raum und so blieb nur ich zurück. Ich wollte nicht raus, dort würde ich einfach verbrennen und dann als Staub auf den Boden befördert werden oder schmelzen. Wohl eher beides gleichzeitig. Luhan stand auf, sah zur Tür und kam dann auf mich zu. Gott, bitte tu mir das nicht an, bitte, bitte, bitte, ich war immer ein guter Junge!

"Hey.", lächelte das Reh und lehnte sich an der Wand neben meinem Tisch an.

"Hey.", murmelte ich zurück und enschied, dass es draußen gar nicht mal so heiß war und mir ein wenig frische Luft gut tun würde.

"Wie heißt du?"

"Minseok."

"Warum nennen die dich Spätseok?"

Ich wusste es.

"Weil die sich für cool halten.", gab ich knapp zurück und stand auf.

"Hör nich' auf die.", sagte er noch immer lächelnd.

"Mache ich auch nicht." Schnell holte ich ein wenig Kleingeld aus meiner Schultasche und steuerte auf die Tür zu.

"Aber warum nennen sie dich so?", fragte er erneut, während er mir folgte.

"Sagte ich doch schon."

"Ach komm, die sind meistens eh alle gleich. Schule ist 'n Schlachtfeld und ein Laufsteg und so gut wie alle Freundschaften hier basieren auf Lügen, das weiß ich doch selbst."

Wooooow, der Kerl hatte also doch vielleicht 'was an sich. Mal sehen, was der noch so von sich geben konnte.

"Gut, ich kann auch die anderen fragen."

Ich hielt an und drehte mich zu ihm um.

"Was geht dich das denn eigentlich an?", stellte ich die Gegenfrage und sendete ihm durch meinen Blick Giftpfeile.

Er lachte nur (wunderschön) und zuckte mit den Schultern.

"Du bist so ruhig und verschwiegen, keine Ahnung, du bist anders als die. Die sind laut und nervig. Das kann ich nicht ausstehen."

"Und was hat das mit meinem Spitznamen zu tun?" Ich hob eine Augenbraue an. (Nein, das anscheinende Kompliment schmeichelte mir nicht, nein. Mir doch nicht. Nein. Nein.)

Wieder zuckte er mit den Schultern.

"Wusste nicht, was ich sonst ansprechen sollte.", lachte er erneut.

"Gut, wenn du mich dann in Ruhe lässt. Die nennen mich so, weil ich noch nie 'ne Freundin hatte. Keine Ahnung, was die daran so lustig finden. Ich find's bescheuert.", ratterte ich schnell runter und setzte meinen Weg fort.

Anders als die. Ha, von wegen. Ich war einfach... einfach nicht so gesprächig. Das Meiste behielt ich in meinem Kopf, oft aus Angst. Angst davor, etwas Falsches zu sagen. So war ich schon immer, sonst war bei mir, so weit ich wusste, nichts anders.

Luhan ließ mich darauf erstmal in Ruhe und ich beschloss, dass es draußen doch viel zu heiß war und ich frische Luft echt nicht so dringend brauchte. So saß ich alleine im Klassenzimmer, alleine an meinem Tisch und biss genüsslich in die Teigtasche, die ich mir zuvor in der Cafeteria gekauft hatte. Zwar schmeckte hier alles nicht gerade am besten, aber es war Essen. Schlecht hin oder her, ich brauchte das, um hysterische Mädchen, aufgebrachte Lehrer, hirnlose Jungen und demnächst auch ein Reh überleben zu können.

Die nächsten Stunden zogen schrecklich langsam an mir vorbei, wir bekamen die Mathearbeit zurück, die ich erfolgreich hinter mich gebracht hatte (eine vier war im Gegensatz zu meiner letzten Note, einer sechs, erfolgreich, fand ich) und wurden über einen Ausflug informiert, der in ein paar Wochen stattfinden sollte.

Als dann endlich die Schulklingel ertönte, schmiss ich all meine Sachen in die Tasche und verließ so schnell wie nur irgendwie möglich den Raum.

Auf dem Heimweg schlug mir das Leben erneut in die Fresse, pardon Klappe drei, in das Gesicht und ließ ein Reh vor mir laufen. Bitte, bitte lass ihn wenigstens nicht in meiner Straße wohnen. Ich habe nichts verbrochen, gar nichts! Aber ich bekam wie immer das Gesamtpaket und ich konnte sehen, wie er stehen blieb, wartete und dann, bevor ein weiteres Auto angerast kam, über die Straße flitzte und vor dem super schicken Hochaus gegenüber von meinem normalen Klotz (ebenfalls ein Hochhaus, aber im Gegensatz zu dem, in dem Luhan anscheinend wohnte, nur ein Klotz) zum Stehen kam. Erneut fragte ich mich, was zum Geier ich je verbrochen hatte und kam mir vor, wie im falschen Film, ehe sich mein Bauch meldete und ich mit dem Wissen, dass meine Mutter heute erst spät kommen würde, den 24h-Shop gleich nebenan ansteuerte.

Endlich zu Hause um halb acht. Um. Halb. Acht. Obwohl ich schon seit Ewigkeiten zu Hause sein könnte. Eine alte Bekannte musste mich ja unbedingt aufhalten und nach einem langen Gespräch (es ging hauptsächlich darum, dass ich ja so groß geworden war und so schön, obwohl ich ziemlich klein war und ich sie das letzte Mal vor gerade mal einer Woche gesehen hatte) half ich ihr, die Einkäufe nach Hause zu tragen. Und da wir bis um sechs Schule hatten... nun, deswegen kam ich so spät heim.

Nachdem ich die Schuhe ausgezogen und meine Tasche abgelegt hatte, schleppte ich mich in die Küche, um mir Kaffee zu machen und das fertige Curry in die Mikrowelle zu werfen.

Mit vollem Magen trugen mich dann meine Beine in das Bad, wo ich mich fertig machte, nur um mich dann in mein Zimmer zu befördern und vor dem Bett nachzugeben. Endlich Ruhe und Schlaf. Und das Beste: meine Mutter war noch nicht daheim, das hieß, dass ich einschlafen konnte, bevor sie mit einem neuen Liebhaber in die Wohnung stolperte und ich daraufhin sehr schöne, angenehme Geräusche hören konnte. (Natürlich war das Musik für meine Ohren, ja, ja.)

Gesamtpaket bleibt Gesamtpaket und so kam es, dass meine Mutter just in diesem Moment nach Hause kam und kurz darauf die "Musik" ertönte.

Mit Todesblicken und Todeslaune stand ich auf, zog mich wieder an und verließ die Wohnung.

Was ich dort sah ließ mich erneut spüren, wie sehr mich mein Leben liebte und dass ich vielleicht doch noch ein wenig mehr, als ein Gesamtpaket ins Gesicht geschleudert bekam.

sweet first •xiuhan•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt