10.

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Ich trete einen Schritt zurück. Das kann nicht stimmen. Das kann einfach nicht wahr sein.
Und obwohl ich sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen habe und natürlich wusste, dass das Leben außerhalb der Kerkerräume, die sich später in eine sterile, weiße Welt verwandelten, weiterging, kann ich es nicht fassen. Sie ist diejenige, die mir gesagt hat, dass wir ganz normale Menschen sind und uns von der Gesellschaft nicht unterdrücken lassen dürfen. Dass wir genauso stark lieben und genauso gut leben können.

Tiara und ich saßen unter der Plastikplane, die sie über die Löchrige Decke des Dachbodens ausgebreitet hatte. Hier lebte sie also. Auf dem Dachboden eines verlassenen Bauernhofes, mehrere Kilometer von der Innenstadt entfernt.
Trotz allem - ihrer zusammengewürfelten Kleidung, der heruntergekommenen Behausung, dem offensichtlichen Geldmangel - trotz allem schaffte sie es, den Raum so einzurichten, dass er nicht nur bewohnbar, sondern auch gemütlich wirkte. Auf dem Boden war ein dunkelroter Teppich ausgebreitet, der zwar nur zwei Drittel der Holzdielen bedeckte, dafür aber flauschig und weich war. Auf dem restlichen Boden lagen Kissen und decken verteilt, sodass im Endeffekt nur an wenigen Stellen das dunkelbraune, splitternde und teilweise schimmelnde Holz zu sehen war. An den Wänden hingen ebenfalls Tücher und Kleidungstücke, die mit Nägeln befestigt waren. Mitten in dieser Stoffhöhle stand ein Doppelbett, das zur Hälfte als Couch diente und ebenfalls mit Kissen und Büchern übersät war. Das restliche Mobiliar bildeten eine Kommode auf der eine selbstrenovierte Lampe stand und ein kleiner Schrank von dem ich annahm, er beherberge weitere Kleidung oder Tücher oder vielleicht Bücher.
"Was ist mit einer Küche? Und mit Strom?"
"Unten ist die Küche beziehungsweise ein Campinggas und ein Tisch mit Töpfen etc. warmes Wasser zum Duschen gibt es zwar nicht, aber immerhin überhaupt einen funktionierenden Wasserhahn. Was den Strom angeht, den hat mein bester Freund - Kylian - hier hochgeleitet, aber da die Stromrechnungen ziemlich hoch sind, benutze ich lieber Öllampen und Kerzen."
Ich nickte ohne zu wissen, wie ich darauf reagieren sollte.
"Was - was ist mit deiner Familie?", stieß ich in einem Satz heraus. Keine Ahnung, wieso ich plötzlich so neugierig war und vor allem so rücksichtslos, aber ich konnte nicht verstehen, wie man seine Tochter in solchen Umständen leben lassen konnte.
Tiara wandte den Blick auf den Boden und spielte mit den Teppichfuseln. Sie saß im Schneidersitz vor mir und ihre ganzen blonden Haare fielen ihr ins Gesicht. Eine Weile sagte niemand etwas und ich konnte nur das Vogelgezwitscher von draußen hören, bis sie wieder zu mir aufblickte und direkt in meine Augen starrte.
"Sie haben mich verstoßen."

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Where stories live. Discover now