6.

845 103 25
                                    

Tiara und ich saßen auf einer zusammengeflickten Wolldecke, die sie mitgebracht hatte. "Überraschung", hieß es. Sie hatte zwei geflochtene Körbe mit allem möglichen Essen vollgepackt und ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld und Mühe es sie gekostet hatte. Wahrscheinlich viel zu viel.
Ich legte meinen Rücken auf den Boden und blickte in den Himmel. Mehrere kleine, weiße Wolken hatten sich auf der Himmelsdecke verteilt. Vielleicht taten sie es uns nach, picknickten und beobachteten uns. Die eine Wolke sah sogar einem Menschen sehr ähnlich: Beine, Arme, Körper ... Nur der Kopf war etwas unförmig und ähnelte einem Schaf.
"Ich liebe es", hauchte Tiara neben mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie sich neben mich gelegt hatte und drehte meinen Kopf zu ihr um. Ihr Blick war in den Himmel gerichtet und ein Lächeln erleuchtete ihr Gesicht. Sie sah in diesem Moment so friedvoll aus. So friedvoll und glücklich, als hätte sie all ihre Vergangenheit, all die Sorgen und die Trauer vergessen. Als habe sie sich mit ihrem Alter und ihrer Figur versöhnt. Wieder naiv. Kindlich fast. Und wunderschön.
"Ich auch", flüsterte ich. "Ich liebe es."
Ich drehte den Kopf zurück und musterte die Wolken genauer.
"Siehst du den Elefanten?", fragte sie tonlos.
"Elefanten?"
"Da oben, rechts neben der kleinen Wolke da."
Ich fand eine Wolke, die den Elefantenabbildungen aus dem alten Kinderbuch meiner Großmutter ähnelte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es jemals wirklich so große Tiere auf dem Festland gegeben hatte. Elefanten ...
"Ja."
Und während wir beide so in den Himmel schauten und uns erzählten, was wir sahen, kam Tiaras Hand immer näher, bis sie sich auf meine legte. Ein angenehmer Schauer durchfuhr mich und ich drehte meine Handfläche nach oben, damit sich unsere Finger ineinander verschränken konnten. Ich drehte meinen Kopf zu ihr um und fiel plötzlich in ein leuchtendes Blau-Grau. In die lebendigen, ausdrucksvollen, lächelnden Augen eines Mädchens. Denn das war sie, ein einfaches Mädchen. Keine Göttin. Nur ein Mädchen, dass ich nach weniger Zeit schon fest in mein Herz geschlossen hatte. Ich lächelte zurück.

Ein Schnurren reißt mich aus meinen Gedanken und die Katze von vorhin streift um meine angewinkelten Beine herum, den vibrierenden Schwanz nach oben ausgestreckt. Ich strecke die Hand aus und streiche über ihr weiches, graues Fell. Der Schmerz in meinem gesamten Körper lässt allmählich nach, verwandelt sich in ein Ziehen, obwohl mein Rücken von dem harten Boden noch immer nicht erholt ist.
Wie kam es eigentlich, dass ich gestern Abend hier eingeschlafen bin? Mitten im Regen?
Die Erinnerung an den gestrigen Abend, das Gewitter und meine Gefühle, die mit mir durchgingen, bringt auch die Erinnerung an den Tag mit sich. An die Entlassung und damit an die ewigen Jahre im Gefängnis. Ich schüttele den Kopf, spüre erneut das Dröhnen, aber alles ist besser als das Erinnern.
Ich möchte vergessen. Frei sein von jeder Vergangenheit. Von meiner Vergangenheit.
"Meaow." Gott sei dank gibt es Katzen, die mich ablenken. Ich kraule das kleine Wesen hinter den Ohren und schlucke. Mein Hals schmerzt. Schön, jetzt habe ich mir offensichtlich in dem Gewitter noch eine Erkältung geholt ...
Andererseits ist im Grunde alles egal, solange ich diesen Gittern fern bleibe. Den Gittern eines winzigen Fensters, durch das nur das schwache Licht eines Innenhofs fällt. Jahr über Jahr.

*****

Einige haben nach längeren Kapiteln gefragt, wäre die jetzige Länge in Ordnung? Wenn ich viel längere schreibe, dann dauert es wahrscheinlich länger, bis ich posten kann :/ Wie seht ihr das?
Und vielen Dank an alle, die bis hierher gelesen haben und noch weiter lesen und fleißig abstimmen und kommentieren! Das ist wirklich schön und motiviert ❤️

Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.Kde žijí příběhy. Začni objevovat