sechzehn

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Ich hatte schon oft geküsst. Vielleicht etwas zu oft. Feuchte Lippen, die nach Alkohol schmeckten, nach Zigarettenrauch und manchmal nach gar nichts mehr, so benebelt war mein Verstand gewesen.

Ich konnte diesen Typen natürlich keinen Vorwurf machen, ich hatte sie schließlich genauso geküsst wie sie mich und ich bin mir sicher, meine Lippen hatten nicht besser geschmeckt, trotz dem Erdbeerlipgloss den ich auch heute noch bei mir trug.

Man konnte die Wahrheit nicht einfach unter einem Lipgloss verstecken und hoffen, dass sie keiner fand.

Der letzte Kuss an den ich mich erinnern kann war länger her, als ich es im Voraus vermutet hätte; ausgetauscht in einer schwülen Herbstnacht, einer dieser, in der die Wärme des Sommers noch nachklang in gewisser Weise, sie steckte in den grünen Adern, die sich immer noch durch die sich verzweifelt an die Äste klammernden Blätter zogen, im Boden, in den vereinzelten hellen Flecken, die der Himmel aufwies.

Henry hieß der Typ. Eigentlich war er nett gewesen, wenn man darüber nachdachte. Aber hauptsächlich hatte er mir leidgetan. Ich wusste nicht mehr wirklich wie alt Henry war, aber er war bereits zwei Mal gefeuert wurden, wegen seinem Alkoholproblem und er hatte eine Tochter die er nicht sehen durfte. Kurz gesagt, er war ein Verlierer. Und auch wenn ich mich an vieles, das er mir erzählt hatte nicht mehr erinnern konnte, hatte sich dieser Blick in seinen Augen irgendwo in meinem Schädel festgesetzt. Traurig und trotzdem noch ein Fünkchen Hoffnung. Dieses Fünkchen war ich.

Er hatte mir an dem Abend ein paar Songs widmen lassen und die heruntergekommene Jazzband dafür bezahlt, hatte mir sämtliche Nachrichten von irgendwem Namens Amanda vorgelesen – wer das genau war wusste ich heute wie damals nicht – und irgendwann, nach etlichen Songs, hatte ich ihn geküsst.

Aber dieser Kuss mit Henry war anders gewesen. Es war ein Mitleidskuss, meine Art zu sagen „Na na, das wird schon wieder".

Es war meine Bezahlung für die spendierten Drinks, die geschenkten Songs, die Rechnung für all die miesen Dinge die all den Kerlen die ich küsste passiert waren.

Und mit Casper war es anders. Es war der allererste Kuss in meinem Leben, mit dem ich nicht versuchte, irgendetwas aufzuwiegen.

Es war der allererste Kuss, der sich wirklich gut und richtig anfühlte.

Beruhigend und aufwühlend zugleich, als würde ein Teil von mir mit ihm zusammenschmelzen, während ein anderer Teil in Flammen stand. Wie von selbst viel mein Körper in einen Rhythmus mit seinem, als wiegte er mich in seinen Armen, Lippen auf Lippen, seine Hand in meinem Haar, die Andere, die langsam runterwanderte, bis unsere Finger sich wie Zahnräder ineinanderschmiegten. Ein Kuss, der all die Blicke aufwog, all die Male, als ich fast nach seiner Hand gegriffen und mich fast an ihn gelehnt hatte, all diese kleinen fasts legte ich in diesen Kuss.

Und dann war es vorbei mir wurde klar, was ich tat und wo ich war und dass ich gerade meinen besten Freund geküsst hatte und dass das alles furchtbar klischeehaft klang.

Also wendete ich den Kopf ab und wartete. Ich hatte keine Ahnung was jetzt passierte.

Normalerweise bestellten Typen nachdem ich sei geküsst hatte noch einen Drink, oder sie versuchten, mich auszuziehen oder sie fingen an zu weinen.

Aber auch wenn ich ihn nicht ansah konnte ich mir nicht vorstellen, das Cas eines dieser Dinge tun würde. Ich meine, einen Drink bestellen konnte er ja schlecht – bei wem denn – ausziehen traute ich ihm ehrlich gesagt nicht zu und weinen kam mir nun doch sehr unwahrscheinlich vor und wenn er das tatsächlich tun würde, wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte.

Aber er tat nicht davon. Eigentlich tat er erstmal gar nicht viel. Und als ich die Hoffnung auf eine Reaktion seinerseits schon fast aufgegeben hatte spürte ich ihn lächeln. Ich sah immer noch nicht hin, doch trotzdem sah ich sein schiefes Lächeln, das, bei dem sich ein Mundwinkel hochzog und dieses winzige Grübchen auf seiner Wange auftauchte. Ich wusste einfach, dass es da war.

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