dreizehn

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Wir saßen genau dort, wo wir damals gesessen hatten, vor Monaten, als alles wunderbar schien.

Ich hatte mich auf der alten, hölzernen Bank zusammengerollt, er saß mir gegenüber, in seinem Rollstuhl.

Ich wusste nicht genau, wie spät es war, und obwohl ich am nächsten Tag in die Schule gehen musste, war es mir egal.

Ich hätte einfach nur stundenlang hier sitzen können, in unserem Garten, wo die Luft vom milchigen Licht des Mondes und den geflüsterten Versprechen vom nahenden Frühling erfüllt war.

Es war eine dieser Nächte, die ihre ganz eigene Musik hatte.

Niemand von uns hatte ein Wort gesagt und obwohl es hätte still sein müssen - es war diese wunderbare Art von Musik, die man teilte und die doch nur einem selbst gehörte.

Leise Töne, eine einsame Geige, Noten, die in die kühle Luft schwebten und genauso unscheinbar und unbemerkt verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.

Es war schwer, etwas zu sehen, doch das spärliche Licht des Mondes erlaubte es mir, Cas zu beobachten, wenigstens ein bisschen.

Ich hatte es mir anders vorgestellt, unser Wiedersehen. Tausende Male, auf tausende verschiedene Arten. Aber nicht so still.

Seine Haare waren länger geworden, hingen ihm strähnig in die Stirn, aber es schien ihn nicht zu kümmern. Seine Lippen waren aufgesprungen und dunkler, als sonst und unter seinen Augen, die mich so unendlich traurig anblickten, dass es wehtat, hingen tiefe Schatten.

Er kam mir viel verletzlicher vor, als je zuvor, und das machte mir Angst, schreckliche Angst, um genau zu sein.

Jemand wie Casper sollte nicht verletzlich sein. Casper, der für mich unwillkürlich die Rolle des einsamen Helden, des tapferen, unbesiegbaren Kämpfers eingenommen hatte.

Es tat weh, seine Helden fallen zu sehen.

„Wusstest du, dass mehr Sterne dazu kommen, je länger du in den Himmel siehst?"

Ich war überrascht, dass er überhaupt redete, aber er hörte sich verwirrt an. Traurig und unbeholfen.

„Nein", erwiderte ich, dabei hatte ich das sehr wohl gewusst. Es war, weil sich die Augen mit der Zeit an die Dunkelheit gewöhnten.

„Nein", wiederholte ich, hauptsächlich um mich selbst davon zu überzeugen, „erzähl mir davon".

Er stieß ein raues Lachen aus und sah mich an - intensiver als bisher, ein Funken glänzte in seinen Augen, ein Funken, der augenblicklich kindische Hoffnung in meinem Herzen entfachte.

„Typisch", flüsterte er, beugte seinen Oberkörper ein wenig vor, bis ich seinen Atem an meinem Ohr spürte.

„Du bist nicht dumm, Grace. Natürlich hast du davon gehört."

Ich verharrte, still, ein leises Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. „Ja, natürlich"

Er lächelte. Obwohl ich über seine Schulter blickte, bemerkte ich es.

„Steh auf", flüsterte er.

Wie eine Marionette, gelenkt von unsichtbaren Fäden, tat ich, was er gesagt hatte. Ich wusste nicht einmal warum, aber das einzige, woran ich denken konnte, war Cas, Cas' Augen, Cas' Wangenknochen, Cas' ungewöhnlich lange, dunkleWimpern, die jede Frau neidisch gemacht hätten.

Wie durch eine große Wattewolke spürte ich seine Finger, die mein Hand umschlossen und mich vorsichtig mit sich zogen, als er seinen Rollstuhl von der Bank wegsteuerte, über das kalte Gras, bis in die Mitte des Gartens.

Wie selbstverständlich griff ich ihm unter die Arme und half ihm, sanft aus dem Sitz zu gleiten, bis er mit nach vorne ausgestreckten Beinen neben mir saß, die Hände in den einzelnen Gräsern vergraben, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Tut mir leid", flüsterte er, gerade als ich die Hoffnung, dass er überhaupt versuchen würde, mit mir zu sprechen schon aufgegeben hatte.

Ich atme aus. Am liebsten hätte ich ihm verziehen, mich an ihn gelehnt und einfach nur zugehört, wie er mir irgendeine wunderbare Geschichte erzählte, irgendwas, das nur er erzählen würde. Irgendwelche kleinen Dinge, die keinem anderen auch nur annährend wichtig erscheinen würden.

Aber aus irgendeinem bescheuerten Grund konnte ich es nicht.

„Ich hab gedacht du hasst mich" Ich hatte versucht, es vorwurfsvoll klingen zu lassen, aber meine Stimme klang dünn und piepsig.

Er hob den Blick, den Kopf immer noch gesenkt. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie er sich auf die Unterlippe biss.

„Ich habe mich selbst gehasst", fuhr ich leise fort.

Es tat weh, das auszusprechen, was ich nicht leugnen konnte, aber noch mehr schmerzte es, seinen Blick auf mir zu spüren. Wie ein stummer Schrei zerriss er die Nacht und wieder spürte ich die Schuldgefühle, die unangenehm gegen meine Kehle drückten.

„Wegen dir" Langsam konnte ich nicht mehr sagen, wer mehr litt - er oder ich.

Endlich hob er den Kopf vollständig und sah mich an, mit einer Miene, die ich nicht deuten konnte. Lange. Länger, als ich ihm standhalten konnte.

„Verdammt Grace" Seine Stimme war so leise, dass ich die Worte kaum verstehen konnte.

Er rückte ein wenig näher, streckte die Hand nach meiner Wange aus, strich ein paarmal mit dem Daumen über meinen Wangenknochen, bevor er seine warme Handfläche sanft auf meine kühle Haut legte.

Ich fühlte mich so unendlich klein - ein Gänseblümchen. Wir waren zwei Gänseblümchen in einem botanischen Garten, zwei Staubkörner auf dem gigantischen Angesicht der Welt, und trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass es irgendwo in Raum und Zeit etwas Wichtigeres geben konnte, als seine Hand auf meiner Wange. Seine Stimme, die meinen Namen so aussprach, wie jeder andere auch, und trotzdem fühlte er sich schöner und glatter an, als bei irgendeiner anderen Person.

„Ja?", erwiderte ich.

„Du weißt schon"

Ich lächelte. „Ich weiß schon was?"

Er erwiderte das Lächeln, der alte Charme schlich sich in seine Augen zurück. „Du bist nicht dumm, Grace. Natürlich weißt du es."

Ich legte den Kopf ein Stückchen in den Nacken und strich mir mit der Hand die Haare über die Schulter, auf den Rücken. „Das kommt mir irgendwie bekannt vor."

Er zog die Augenbrauen hoch und schenkte mir dieses niedliche schiefe Lächeln. „Ja?"

Und dann fiel ich nach vorne, er fing mich auf und ich lag in seinen Armen. So, wie es immer hatte sein sollen.

Grace, das Mädchen, das nie etwas Besonderes war in den Armen ihres Helden, des Jungen, der niemals die Welt bewegen würde, ihre jedoch auf den Kopf stellte.

Es fühlte sich an, als wurden mir alle Sorgen entrissen, so leicht und süß, erleichternd. Unglaublich erleichternd. Als würde ich davonschweben, würde Cas mich nicht festhalten.

„Komme niemals", murmelte er in meine Haare, „niemals auf die Idee, ich könne dich hassen"

Ich schlang die Arme fester um ihn, umklammerte seinen Hals, damit er nie wieder gehen konnte. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Person so vermisst, mich so nach einer Person gesehnt und nun saß ich hier, neben dem merkwürdigen Typen, der vor meinen Augen aus seinem Rollstuhl gefallen war und presste mich an ihn, als würde ich auf der Stelle sterben, wenn er mich losließe.

Er drückte die Nase in meine Haare, zog scharf die Luft ein. „Ich könnte dich niemals hassen."


Ich gebe es auf, keine Autorenanmerkungen mehr schreiben zu wollen.

Eine kleine Frage aus Interesse, vielleicht nehmt ihr euch ja die Zeit: Welche Szene mögt ihr bis jetzt am liebsten und warum?

Danke an -Katharina- für's Korrigieren der Fehler. :)


MauerblumenWhere stories live. Discover now