Kapitel 1

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Schon immer fühlte ich mich wie eine Fremde im eigenen Leben - weder hier noch dort, verloren im unendlichen Nirgendwo. Weder gehörte ich wirklich in der Schule dazu noch fand ich je einen Platz bei den anderen im Waisenhaus, wo ich aufgewachsen war. Und auch jetzt, wo ich all das längst hinter mir gelassen hatte, schien das Gefühl der Zugehörigkeit unerreichbar fern. Weder war ich auffällig beliebt noch auffällig unbeliebt. Ich schwebte irgendwo dazwischen, unscheinbar und vergessen, im steten Schatten des Dazwischen.

Während meine Klassenkameraden den Abschluss vor einigen Monaten in ausgelassener Feierlichkeit beendeten, fand ich mich allein auf meinem Fahrrad wieder, den Fluss entlangfahrend, bis meine Beine brannten und mein Atem mühsam wurde. Irgendwo außerhalb der Stadt ließ ich mich schließlich ins Gras fallen. Der salzige Geschmack der Tränen, die den Weg von meinen Wangen zu meinen Lippen fanden, lag noch immer auf meiner Zunge, während ich mich hier an dieser verfluchten Kaffeemaschine stand und die Milch aufschäumte. Meinen Abschluss mit niemanden richtig feiern zu können, hatte mich mehr mitgenommen, als ich gedacht hatte. Denn ich dachte eigentlich, ich käme ganz gut alleine zurecht.

Ich riss mich von den Gedanken los, um mich zur Theke umzudrehen und einem älteren Herrn den Kaffee vor die Nase zu stellen.

Er brummte nur, was ich als Dankeschön deutete.

Nachdem meine Eltern mich als Baby einfach so vor ein Waisenhaus gesetzt hatten, wusste ich nicht wohin mit mir. Ich fühlte mich verloren, ohne eine Bestimmung. Und als der Abschluss näher rückte, hatte ich immer noch keinen blassen Schimmer, was ich mit mir anfangen sollte. Das hatte sich bisher nicht geändert. Aber eins wusste ich mit Sicherheit: Ewig Kaffee ausschenken gehörte nicht dazu. Andererseits war es ja auch nicht so, als ob man besonders viele Möglichkeiten in dieser gottverdammten Stadt hatte. Für Touristen war dies wohl eines der schönsten Fleckchen auf Erden. Für mich jedoch war es einfach nur gähnende Leere.

Porthaven lag, wie es der Name so dämlich doppelt verdeutlichte, am Wasser und war der Inbegriff eines kleinen Fischerdörfchens. Diejenigen, die genug Geld hatten, zogen in die Stadt, um dort zu studieren. Etwas, was ich auch gern getan hätte. Aber nicht umsonst arbeitete ich in diesem Diner. Als Waise hatte man normalerweise kein großes Bankkonto, außer man hieß Harry Potter und war ein berühmt-berüchtigter Zaubererjunge. Deswegen musste ich mir jede Münze selbst zusammen kratzen. Dass ich ab 18 aus dem Waisenhaus ausziehen musste, machte die ganze Sache natürlich auch nicht leichter. Ein Seufzer entglitt meinen Lippen. Leider lebte ich in keiner magischen Welt mit großem goldenem Bankkonto.

"Einmal den Cheeseburger bitte", hörte ich eine tiefe Stimme am anderen Ende der Theke, die mich aus den Gedanken riss. Ich hob den Blick von dem Waschlappen, mit dem ich die Theke akribisch geputzt hatte, während ich erneut in Gedanken abgedriftet worden war. Ein junger Mann saß dort, mit einer dunklen Lederjacke. Braune leicht wellige Haare standen in allen Richtungen ab und er sah mich durch kühle blaue Augen an. Ich blinzelte ein paar Mal.

"Und ne Coke", fügte er genervt hinzu. Ich nickte und schrieb die beiden Bestellungen auf einen Zettel, den ich durch eine kleine Öffnung zur Küche reichte. Ich kannte diesen jungen Mann nicht, was in dieser Stadt doch äußerst selten vorkam. Früher oder später verschlug es jeden ins Netherfield's Diner. Er beobachtete mich, wie ich einen weiteren Kaffee machte und ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Ich war es nicht gewohnt, beobachtet zu werden, denn normalerweise konnte ich nichtexistieren für andere Menschen. Ich schwebte eben im Nirgendwo.

"Kann ich dir sonst noch was bringen?", fragte ich dann mutig und drehte mich zu ihm. Er musterte mein Gesicht und legte den Kopf schief.

"Nein, passt schon", sagte er, während er die Augen zusammenkniff.

NachtengelWhere stories live. Discover now