1. Kapitel - Dunkle Wolken

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Der Regen prasselte dick und fett auf den dünnen Rasen von Hampsted's. Die Kinder und jungen Erwachsenen hatten sich in die schützenden Wände des alten Gemäuers zurückgezogen. Dennoch herrschte auch hier eine feuchte Luft. Willy hatte bereits öfter, als er zählen konnte den Keller von Wasser befreien müssen. Und viel zu oft schrubbte er den immer wieder kehrenden Schimmel von den Wänden. Dass dies nichts nützte, blieb auf der Strecke liegen. Aber er wurde dafür bezahlt und ob's das Schrubben des Putzes oder des Autos war – er bekam seinen Hungerlohn.

In den hinteren Zimmern – nicht unweit der Treppe, lag ein Zimmer, das sich wacker hielt. Willy hatte in den letzten fünf Jahren nicht einmal dort den Schimmel entfernen müssen. Es musste ein Wunder sein, dachte er sich jedes Mal, wenn Miss Lounds ihn zum Nachbarzimmer befahl. Ein Wunder! Ein Wunder, das ganz klar in den Händen Gottes liegen musste, der ihn vor noch mehr krankmachender Arbeit schützte.

Dass das Wunder nicht in den Händen des Allmächtigen lag, das wusste keiner.

Es fand seinen Ursprung nicht im Himmel. Nein. Es wurzelte in etwas, das irdischer nicht sein könnte:

Auf den grauen Bodenfliesen hockte ein junges Mädchen. Ihr Gesicht ruhte in ihren Händen. Sie schien zu weinen – so würde es zumindest Miss Lounds sehen, wenn sie wieder ihren Rundgang machte. Doch es flossen keine Tränen. Die junge Dame vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, um nicht etwa ihre Tränen zu stoppen, sondern ihre Gedanken. Sie versuchte sich, auf die dunkle Schwärze zu konzentrieren, die in ihrem Kopf pulsierte.

Und während sie dort so saß, öffnete sich ihre Tür.

»Talithia! Steh auf! Es gibt Arbeit!«

Sie hob ihren Kopf und sah zu der älteren Frau.

»Einen Moment«, erwiderte sie und erhob sich. Die dunklen Wolken, die sich an der Zimmerdecke gesammelt hatten, sah Miss Lounds nicht.

Während die Aufseherin von dannen zog, verschwanden auch die dicken Schwaden.

Talithia blinzelte einmal, zweimal, dann folgte sie der älteren Frau.

Obgleich in ihrem Zimmer Stille herrschte, war es auf dem Flur ausgesprochen laut. Die Jüngsten rannten lachend über den Holzfußboden und die Älteren tadelten sie. Hier draußen roch es nach Rosmarin. Die Küche lief auf Hochtouren. Und das war auch der Grund für die hitzige Stimmung.

»Nachher kommt unser Sponsor. Ich möchte, dass du ordentlich die Tische deckst. Es soll alles adäquat sein. Er soll sich wohl fühlen.«

Talithia nickte.

Eigentlich hieß sie nicht so. Zumindest nicht mit Erstnamen. Doch niemand im Haus wollte sie so nennen, wie ihre Eltern es für sie vorgesehen hatten. Jedenfalls war das ihre Vorstellung. Natürlich konnte sie nicht wissen, von wem genau der Name nun stammte – aber eines stand fest: Er war zu außergewöhnlich für die Menschen hier im Haus.

»Ezra! Ezra!« Miss Lounds hatte damals die Hände in die Luft geworfen, als die Frau ihr das Bündel gegeben hatte. »Sie hat doch wohl noch einen zweiten Namen.«

Ja, den hatte sie. Und die Frau hatte ihr erklärt, dass das der Name war, der ihrer Großmutter gehört hatte. »Sie war eine so wunderbare Frau. Ich bedauere jeden Tag, dass die Auroren sie umgebracht haben.«

Was genau diese Auroren waren, das wusste Miss Lounds bis heute nicht. Genau so wenig wusste es Talithia – konnte sie auch nicht. Denn Miss Lounds hatte sich bis heute nicht die Mühe gemacht, ihr davon zu erzählen. Das Einzige, was sie von der Nacht wusste, war ein Name.

Ihre Mutter, hatte die Aufseherin erzählt, hätte einen genauso komischen Namen wie sie ihn trug: Asterope Thabit

Seit sie den Namen ihrer Mutter gehört hatte, wiederholte sie ihn jede Nacht vor dem Schlafen gehen. Sie wollte nicht riskieren, ihn zu vergessen. Aber aufschreiben, wollte sie ihn auch nicht. Denn es war ihre Mutter. Und ihr Andenken. Keiner sollte je in die Hände bekommen, wo ihre Wurzeln lagen. Jedenfalls nicht diese Normalen.

Die Normalen. So nannte Talithia die Menschen um sich herum. Keiner von ihnen schien so zu sein wie sie:

Keiner konnte in den Geist der anderen eindringen. Niemand war in der Lage mit Schlangen zu sprechen. Und keiner von ihnen konnte die Dinge um sich herum nur mit den Gedanken verändern.

Während die Kinder von dem Lärm der vorbeiratternden Züge nicht schlafen konnten, war es in ihrem Zimmer totenstill.

Wenn die anderen Waisen nie satt wurden, leerte sich ihr Teller nur, wenn ihr Magen auch voll war. Und während diese dummen Gören sich mit der Hausarbeit abmühten, blitzte und blinkte ihr Zimmer mit einem Wimpernschlag.

Und auch die anderen Dinge trennten sie von den Normalen:

Sie hatte, seit sie sich erinnern konnte, die Gabe, die Dinge um sich herum nach ihrem Belieben zu verändern. Der Tisch wurde plötzlich ein Schrank. Das Buch eine Katze. Und die Socken krochen hin und wieder als Mäuse zwischen den Möbeln umher.

Einmal, da hatte sie sogar versucht, die alten Seiten der Bibel in ihrem Schrank in Geld zu verwandeln. Aber irgendwas hatte mit ihnen nicht gestimmt, denn der Kassierer wollte sie nicht annehmen. Vielleicht lag es daran, dass sie versucht hatte, die größtmöglichen Summen zu schaffen. Aber in ihrem ganzen Leben hatte sie nicht einmal einen Fünfziger gesehen, geschweige denn in der Hand gehalten. Darum war es auch nicht verwunderlich, dass der Schein am Ende komplett falsch aussah.

Hin und wieder konnte sie ein paar Münzen aus den Taschen der Leute stehlen. Doch natürlich hatte niemand von ihnen in dieser Zeit Geld. Der Krieg hinterließ überall seine Spuren.

Miss Lounds drückte ihr plötzlich einen Stapel Teller in die Hände.

»Träum nicht so viel.«

Träum nicht so viel. Das sagten sie ihr ständig. Aber es war viel spannender, sich auszumalen, was sie später einmal mit dem zusammen geklauten Geld anstellen würde, als das Geschirr zu putzen oder den Garten zu jäten.

Miss Lounds verschwand und nun war das Mädchen allein in dem Raum.

Sie sah sich um. Einmal, zweimal, dreimal blickte sie zu den hohen Fenstern und prüfte, ob auch niemand hinein spähte. Dann ließ sie die Teller über den Tisch fliegen. Und die Gabeln und Messer folgten. Jedes Besteck setzte sich fein säuberlich an seinen Platz. Und kurz bevor Miss Lounds wieder in den Speisesaal trat, stand auch der Wasserkrug dort, wo er immer stand.

»Gut. Jetzt hilf in der Küche.«

Niemand wunderte sich jemals, dass Talithia so schnell mit ihren Aufgaben fertig war. Meist nahmen sie es wohlwollend hin und dirigierten sie zu ihrer nächsten Arbeit.

In der Küche zu helfen war keine schöne Angelegenheit. Denn hier konnte sie nicht die Dinge mit ihrem Geist bewegen. Hier waren überall Augen und Ohren, die bei der kleinsten Abweichung sofort zum Direktor rannten.

Der Direktor wiederum, sein Name war Mister Hampsted, sorgte dafür, dass all die Ruhestörer ihre Strafe bekamen. Und wenn sie sich dann sie sich dann immer noch auflehnten, dann landeten sie im Krankenhaus. Entweder durch angebrochene Rippen – oder der Begründung, das Kind leide unter Wahnvorstellungen und bräuchte ärztliche Hilfe. Oder sie wurden in ein Kloster geschickt. Und in ein Kloster wollte Talithia ganz bestimmt nicht. Dort würde sie rund um die Uhr beobachtet werden und irgendwann würden diese Pinguine Wind von ihren Kräften bekommen. Dann würde ein Exorzist sich ihrer annehmen und sie 'im Namen Gottes' auspeitschen bis ihr ihre 'dämonischen Kräfte' ausgetrieben wären.

Sie glaubte nicht an Dämonen. Und auch nicht an Engel. Denn dann würde sie hier nicht sitzen und Gemüse schnippeln. Menschen mit besonderen Fähigkeiten hockten nicht im Waisenhaus. All die anderen hier, die gehörten an diesen Ort. Aber sie nicht. Sie war besser. Und stärker.

Die Küchenhilfe schaufelte ihr einen neuen Batzen Kartoffeln vor's Gesicht. Seufzend schälte sie auch die letzten drei Dutzend.

The Lost Heir Of SlytherinWhere stories live. Discover now