01

119 19 77
                                    

„Bitte erschrick nicht! Ich bin's."

Starr vor Schreck und mit verheulten Augen starrte ich auf mein Handydisplay. Unmöglich, bei so einer Nachricht nicht zu erschrecken! Das konnte nur ein Systemfehler der Telefongesellschaft sein oder ein Scherz – und zwar einer, der allerübelsten Sorte! 

Ich war gerade heimgekommen, hatte erschöpft die Apartmenttür hinter mir ins Schloss geschoben und wollte einfach nur meine Ruhe von der Scheißwelt da draußen haben, da hatte mir der allzu vertraute Swoosh-Ton meines Handys eine neue Kurznachricht signalisiert. 

Ich blinzelte mit Kajal verklebten Augen und vergewisserte mich, dass ich mich nicht getäuscht hatte, doch in der Dunkelheit der engen Eingangsdiele leuchteten immer noch dieselben Worte im Handydisplay: „Bitte erschrick nicht! Ich bin's." 

Am liebsten hätte ich gleich wieder losgeheult, wären nach diesem Tag und den letzten zwei Wochen noch Tränen übergeblieben. Ich kam gerade von einer Beerdigung, die so etwas wie einen Abschluss markieren sollte, einen endgültigen Abschied, ein Abfinden damit, dass Jamie nicht mehr da war, egal wie sehr ich ihn vermisste, wie sehr ich ihn brauchte, wie sehr ich ihn liebte. Und nun schickte mir irgendein Grenzdebiler eine Nachricht mit seinem Absender und bat mich darum, dass ich mich nicht erschrecken sollte. 

Das war an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten! Wie konnte jemand derart grausam sein?

Ich sollte die Message auf der Stelle löschen, den Absender sperren und die Sache möglichst schnell vergessen. Doch wie sollte ich den Kopf ausschalten, solang es in mir brodelte? Ich kannte mich, das war aussichtslos. 

Ich musste etwas dagegen unternehmen! 

Auf der Stelle! 

Ich sollte die Telefongesellschaft auffordern, Jamies Nummer schleunigst zu sperren, damit dieser hirnbröselige Scherzkeks nicht noch andere terrorisieren konnte. Und ich sollte die Polizei einschalten. War das nicht eine Straftat, wenn man die Identität eines Toten stahl? Das Brodeln schwoll zu einem heiligen Zorn an. Ich könnte auch einfach ein freundliches „Fick dich!" zurückschicken. 

Zugegeben, Eleanor, mein Schwesterherz, die ich über alles liebte, hatte mich oft genug davor gewarnt, dass ich mit meiner Impulsivität niemandem einen Gefallen tat, am wenigsten mir selbst. Doch meine große Schwester war auch einfach viel zu vernünftig. Sie hatte an Jamies Grab nicht einmal mit mir weinen können. Wie auch, wenn sie nicht nur die Trauer wegsperrte, sondern jedes ach so negative Gefühl verdammte wie Wut, Verachtung, Misstrauen, Neid, Eifersucht und Leidenschaft. 

Ja, die Leidenschaft hatte es bei meiner Schwester tatsächlich auf die Liste ihrer sieben Todsünden geschafft. Würde sie nicht vom großen Familienglück träumen, hätte es selbst die Begierde den Todsünden hinzugefügt. Teufel, was würde ich dafür geben, wenn mir jetzt jemand das Hirn aus dem Leib ficken würde. Selbstvergessen alle Gefühle rauslassen, jeden Gedanken abtöten und für einen Moment aufhören zu existieren. Sich auflösen und eins werden mit dem Universum. 

Eleanor würde fassungslos den Kopf schütteln, wie ich ausgerechnet jetzt an Sex denken konnte. Wie sollte sie auch. Dafür war sie einfach ein zu guter Mensch. Ich bezweifelte, dass sie jemals richtig gefickt hatte. Liebe machen? Ja, natürlich! Aber ficken? 

Eleanors Lieblingsspruch war: „Wissenschaft schafft Wissen, Leidenschaft schafft Leiden!" 

Ich antwortete dann immer breit grinsend: „Und Liebschaften schaffen Liebe!" 

Dafür bekam ich regelmäßig einen Knuff auf den Oberarm. An der Stelle habe ich seit Teenagertagen fast ununterbrochen einen blauen Fleck. Fiel das schon unter häusliche Gewalt? Ich musste lachen – und das tat gut. Ich liebte meine große Schwester, die stets bemüht war, mich auf den rechten Pfad zu halten. Und ich hatte gegen jede ihrer Todsünden verstoßen – unzählige Male. Zumeist konnte ich es vor ihr verbergen – zum Glück. 

Denn sie war schon mit 16 so furchtbar erwachsen gewesen und hatte Erzieherin, Lehrmeisterin und Vormund  für mich gespielt. In den letzten zehn Jahren hatte sich daran nichts geändert, obwohl sie gerade mal anderthalb Jahre älter war. Ich würde immer ihre kleine Schwester bleiben – und ihre Tochter, ihre Schülerin, ihre Schutzbefohlene. Ich konnte mit jedem Kummer zu ihr kommen, wann ich wollte – auch mitten in der Nacht. 

Sobald ich allerdings ihren sieben Todsünden zum Opfer fiel, wurde sie ungeduldig mit mir. 

Wozu Eleanor mir raten würde, wenn sie von dieser Nachricht wüsste, wusste ich darum ganz genau. Sie würde mich ermahnen, meine Wut zu bremsen, die nur daher rührte, dass ich mich von meiner Trauer überwältigen ließ. Und darum sollte ich auch keine Verachtung für dieses Arschloch empfinden, weil es in ihren Augen bloß ein bedauernswertes Geschöpf war, das sein schwaches Selbstwertgefühl durch Telefonstreiche aufpolieren wollte. 

Ich wollte ihn aber nicht bedauern, schon gar nicht wollte ich meinen Zorn zügeln. Und deshalb würde meine Schwester niemals von dieser Sache erfahren, soviel stand fest. Das würde ich allein regeln! 

Ella lag hoffentlich längst im Bett. Sie war nach der Trauerfeier ganz schön betrunken gewesen. Was sie an Tränen nicht rauslassen wollte, hatte sie an Alkohol in sich hineingekippt. 

Sie tat zwar immer so, als wäre sie die Erwachsenere von uns beiden (und Alkohol ist nur was für Erwachsene), aber ich war die Stärkere von uns. Wenn es hart auf hart kam, dann war ich ihr Fels in der Brandung. 

Das waren unsere drei Superkräfte, mit denen wir uns gegenseitige schützten: rebellische Stärke, leidenschaftslose Vernunft und unzerstörbare Liebe, die wir Schwestern füreinander empfanden wie für keinen anderen Menschen auf der Welt. Niemand, wirklich niemand schaffte es, zwischen uns zu kommen. Davon konnten einige ein Lied singen, die versucht hatten, sich mit einer von uns beiden anzulegen. 

Nachdem ich Ella ins Taxi gesetzt hatte, wollte ich noch einmal zu Jamies Grab, was gar nicht so einfach gewesen war. Da das Friedhofstor bei Einbruch der Dämmerung verriegelt worden war, musste ich über die Mauer klettern. Dabei hatte ich mir die Nylonstrümpfe zerrissen, aber immerhin war das Schwarz meines Trauerkleids die perfekte Tarnfarbe gewesen für einen nächtlichen Besuch bei den Toten. 

Die Mauer war allerdings das kleinere Hindernis gewesen. Ich hätte nicht gedacht, wie schwer es mir fallen würde, mich auf dem weitläufigen Friedhof zu orientieren. Diese roten Grablichter (wieso sind die eigentlich immer alle rot?) spendeten so gut wie kein Licht und ließen erst recht jeden finsteren Weg gleich aussehen. 

Jetzt stand ich aber im Dunkeln meines Apartments, trug immer noch Stiefel und meine schwarze Bomberjacke, hatte immer noch lehmverschmierte Hände und verlaufenes Make-up im Gesicht und starrte immer noch auf mein Handy, dessen Bildschirm schwarz geworden war. Ich tippte darauf, das Licht flammte wieder auf und ließ mich blinzeln. 

Die erschreckende Nachricht, die mich nicht erschrecken sollte, hatte sich nicht aufgelöst.

Ich schrieb eine Antwort: „Was muss man nur für ein erbärmlicher Wichser sein, dass man sich an so einer Geschmacklosigkeit aufgeilt?" 

Ohne den Text noch einmal Korrektur zu lesen, drückte ich auf Senden und war sehr zufrieden mit mir. 


Ich bin dein kleiner TodWhere stories live. Discover now