Das mutigste Pony

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Noch ehe Laura etwas sagen konnte, stellte Mel ihren Fuß in den Steigbügel und schwang sich auf Silvers Rücken. "Was hast du vor?", fragte Laura sie entgeistert. "Ich muss Minny retten!" Mel presste ihre Fersen in Silvers Seiten und galoppierte hinaus in das Unwetter. "Komm zurück! Das ist viel zu gefährlich!", schrie Laura ihr hinterher. Aber es war zu spät. Mel preschte in wildem Galopp auf den Heuschober zu. Laura zögerte keine Sekunde. Sie schwang sich auch in den Sattel und galoppierte hinter ihrer Freundin her. "Mel! Halt an!", rief sie. Natürlich fand Laura die Vorstellung unerträglich, dass Minny und ihre Jungen im Heuschober in der Falle saßen. Aber sie wusste auch, dass Mels Leben in Gefahr war, wenn sie den Schober betrat. Was, wenn er doch Feuer fing? Die Angst um das Leben der Katzen ließ Mel die Stimme ihrer Freundin überhören. Sie trieb Silver an dem brennendem Baum vorbei und auf das Tor des Schobers zu. In einem Satz war sie abgesprungen und hatte es aufgerissen. Minny kam ihr entgegengeschossen. Eines der Kätzchen trug sie im Maul. Laura erkannte den weißen Fleck auf dem Bauch. Es war Sternchen! Aber was war mit Krümel? Er musste noch im Schober sein. Mit großem Entsetzen sah Laura, wie Mel Silvers Zügel ergriff und in den Heuschober stürzte. Sternenschweif wieherte warnend. Ein lautes Knarren ließ Laura erstarren. Als sie nach oben schaute, sah sie einen großen, hell lodernden Ast, der jeden Moment zu brechen drohte. "Mel!", schrie Laura, so laut sie konnte. "Mach, dass du da rauskommst!" Ihre Freundin erschien im Eingang, Krümel fest an sich gepresst. "Schnell!", drängte Laura mit einem Blick auf den brennenden Baum. Aber es war zu spät. Bevor Mel den Schober verlassen konnte, stürzte der brennende Ast mit einem furchtbaren Krachen vor dem Tor auf den Boden. Mel schrie erschrocken auf. Laura gefror das Blut in den Adern. Der brennende Ast versperrte Mel den Weg nach draußen! Sie konnte durch den zunehmenden Rauch gerade noch das Entsetzen in Mels Augen erkennen. Es gab nur eine Möglichkeit für sie, der Gefahr zu entrinnen. "Du musst auf Silver über den Ast springen, Mel! Es ist deine einzige Chance!", rief sie der Freundin zu. "Aber er springt doch nicht!", schrie Mel verzweifelt zurück. "Du musst es trotzdem versuchen!", ermutigte Laura ihre Freundin. Krümel fest an sich gepresst, kletterte Mel auf Silvers Rücken. Verzweifelt sah Laura sich um. Aber sie konnte weder Herrn Miller noch die Feuerwehr entdecken. Sie waren auf sich allein gestellt. "Silver, bitte!", beschwor Laura das Pony, als Mel auf den Ast zutritt. "Du musst darüber springen! Du darfst Mel jetzt nicht im Stich lassen! Tu es für sie!!" Über das Tosen des Feuers hinweg hörte sie Silvers ängstliches Wiehern. "Bitte spring, Silver", flehte Laura inständig. Es gab für Mel nur einen einzigen Ausweg - Silver musste springen! Sternenschweif schien zu dem gleichen Schluss gekommen zu sein. Er warf seinen Kopf zurück und wieherte Silver beschwörend zu. Als er das tat, zuckte ein Blitz über den Himmel, der Sternenschweifs graues Fell in ein strahlend weißes Licht hüllte. Laura sah, wie urplötzlich ein neuer, mutiger Ausdruck in Silvers Augen stand. Wie Sternenschweif warf er seinen Kopf zurück, dann galoppierte er an. Mel klammerte sich mit ihrer freuen Hand an seiner Mähne fest. Silvers Ohren stellten sich nach vorn und im nächsten Augenblick flog er mit einem großen Satz über den brennenden Ast hinweg. Mel drückte Krümel wie betäubt an sich. Erstaunen, Erleichterung und Freude wechselten sich auf ihrem Gesicht ab, als sie auf Laura und Sternenschweif zu galoppierten. "Er hat es getan!", rief Mel. Sie rutschte aus dem Sattel, als Silver zum Stehen gekommen war. "Er ist gesprungen, Laura! Er ist tatsächlich gesprungen!" "Er war großartig!", versicherte Laura überglücklich und Sternenschweif wieherte zustimmend. In diesem Moment erreichte sie Herr Miller. "Mel! Um Himmels willen!" Vor Aufregung konnte er kaum atmen. "Was hattest du bloß im Heuschober zu suchen?" "Ich musste doch Krümel retten", stammelte Mel. "Aber ich habe dir doch gesagt, du sollst in der Scheune bleiben!" Herr Miller nahm seine Tochter ganz fest in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist." "Da kannst du dich ganz allein bei Silver bedanken." Erleichtert löste sich Mel von ihrem Vater und umarmte den kleinen Apfelschimmel. "War er nicht unglaublich mutig, Papa?" Herr Miller lächelte Silver an. "Das mutigste Pony der Welt!" Silver schnaubte stolz, seine dunklen Augen strahlten vor Freude. 

Als der Brand etwas später gelöscht war und die Feuerwehrmänner wieder abzogen, seufzte Laura erleichtert auf. Alles war gut ausgegangen. Sie, Mel und die beiden Ponys waren in Sicherheit. Krümel, das kleine Kätzchen, war wieder mit Minny und Sternchen vereint und Mel hatte der kleinen Familie einen neuen Unterschlupf in der Box neben Silver zurechtgemacht. Laura schauderte bei dem Gedanken, dass alles auch ganz anders hätte ausgehen können. Wenn Silver nicht so tapfer gewesen wäre... Sie mochte gar nicht daran denken, was dann hätte passieren können. Sie erinnerte sich, wie er nur kurz vor dem brennenden Ast gezögert hatte. Woher hatte er auf einmal den Mut gehabt, zu springen? Herr Miller brachte Laura und Sternenschweif schließlich mit dem Pferdetransporter nach Hause. Aber für Laura war klar, dass sie nachts noch einmal zu Silver fliegen würden, um ihn zu fragen, warum er sich getraut hatte.

Silver war für die Nacht wieder auf die Koppel gebracht worden. Sie fanden ihn grasend im unteren Teil der mondbeschienen Weide. Laura sprang von Sternenschweifs Rücken und lief zu ihm hinüber. "Du warst heute wirklich großartig, Silver", sagte Laura, nachdem er sie mit einem leisen Schnauben begrüßt hatte. "Wieso konntest du auf einmal deine Angst überwinden?" Silver antwortete mit einem leisen Wiehern. "Er sagt, ich hätte im Licht des Blitzes wie ein Einhorn ausgesehen", übersetzte Sternenschweif für Laura. "Da hat er erkannt, dass er, wenn er Mel retten wollte, genauso mutig sein musste wie in jener Nacht, als ich ihn mit meinem Horn berührt habe - so mutig wie ein Einhorn." Laura nickte, sie erinnerte sich an den Ausdruck in Silvers Augen, als der Blitz Sternenschweifs Fell hatte erstrahlen lassen. Jetzt ergab alles einen Sinn. Sie sah den kleinen Apfelschimmel an. "Du warst wirklich unglaublich, Silver! Und das Beste daran ist, dass die die Sprünge im Ponyclub im Vergleich zu dem riesigen Ast winzig erscheinen werden. Die wirst du alle mühelos meistern." Silvers Schnauben klang nicht so, als würde er das glauben. Sternenschweif übersetzte wieder. "Er sagt, dass er nur über den Ast springen konnte, weil er keine andere Wahl hatte." Laura runzelte die Stirn. "Aber Sternenschweif war kein Einhorn, als du über den Ast gesprungen bist, Silver. Du bist gesprungen, weil du in Wahrheit unglaublich mutig bist." Sternenschweif schnaubte zustimmend. Silver starrte Laura an, als hätte sie etwas absolut Unglaubliches gesagt. "Du hast Mels Lebens gerettet, Silver", fuhr Laura fort. "Wenn du das konntest, kannst du alles andere auch tun." Ein neuer, zuversichtlicher Ausdruck ließ Silvers Augen leuchten. Laura kletterte wieder auf Sternenschweifs Rücken. "Wir müssen jetzt wieder nach Hause. Gute Nacht, Silver." Silver schnaubte stolz und schüttelte seine Mähne, als Laura und Sternenschweif in die Nacht emporflogen.

Am Samstagnachmittag beobachtete Laura gemeinsam mit Sternenschweif, wie Mel mit Silver auf den Reitplatz ritt, auf dem ihre Reitlehrerin die Hindernisstrecke aufgebaut hatte. Es war für Laura nicht leicht gewesen, Mel zur Teilnahme an dem Springturnier zu überreden. Die Erinnerung an Silvers großartigen Sprung über den brennenden Ast hatte schließlich den Ausschlag gegeben. "Ich verstehe nicht, warum Mel überhaupt hier ist." Jades abfällige Bemerkung dran schneidend an Lauras Ohr. Gemeinsam mit Monica beobachtete Jade die beiden. "Silver wird nie im Leben springen." Laura schluckte eine Erwiderung hinunter. Stattdessen drückte sie ganz fest beide Daumen. Die Hindernisstrecke war nicht lang, aber kurvenreich und bis jetzt war keinem aus der Gruppe ein fehlerfreier Durchgang gelungen. Jades Pony Prinz hatte drei Stangen abgeworfen und Scout, Monicas Pony, hatte sogar dreimal verweigert, sodass sie von der Wertung ausgeschlossen wurde. Sternenschweif hatte auch eine Stange abgeworfen, aber das machte Laura nichts aus. Sie wusste, dass er sein Bestes gegeben hatte. Als Mel mit Silver auf das erste Hindernis zu galoppierte, drückte Laura ihre Daumen noch fester und hielt den Atem an. Würde Silver verweigern oder springen? Zu ihrer Freude sah Laura, wie sich die Ohren des Ponys aufmerksam nach vorn richteten, seine Galoppsprünge länger wurden und es fehlerfrei über das erste Hindernis setzte. Silver nahm einen Sprung nach dem anderen. Kein einziges Mal scheute oder zögerte er. Seine elganten Bewegungen ließen auch die anderen Reiterinnen und Reiter staunen. Laura nahm war, wie sie leise bewundernd miteinander flüsterten und wie gebannt Mel und Silver zusahen. Als er über die letzte Stange flog, beklatschten die Zuschauer begeistert seine perfekt gesprungene, fehlerfreie Runde. Nur Jade klatschte nicht und verzog ihr Gesicht als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen. Wütend stapfte sie davon. Mel tätschelte Silvers Hals, als wollte sie nie wieder damit aufhören. Sie flüsterte Silver lächelnd etwas ins Ohr, beugte sich zum ihm hinunter und gab ihm einen dicken Kuss auf seinen Ponyhals. Silver schnaubte zufrieden und man konnte sehen, wie stolz er war. Beim Anblick der glücklichen Gesichter von Mel und Silver umarmte Laura Sternenschweif überglücklich. "Ist das nicht herrlich, Sternenschweif?", flüsterte sie. "Ich bin so froh, dass du den beiden helfen konntest." Sternenschweif schüttelte seinen Kopf und stupste sie mit seiner Nase an. Laura verstand sofort, was er ihr sagen wollte. "Okay, du hast ja recht." Liebevoll legte sie den Arm um ihn. "Sagen wir es besser so: Ich bin so froh, dass wir gemeinsam den beiden helfen konnten!" 

Sternenschweif - Sprung in die NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt