Geheimnis der Einhörner

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"Gleich ist es so weit, Sternenschweif", flüsterte Laura Foster dem grauen Pony zu, das neben ihr stand. Sie betrachtete die sternförmigen Blüten in ihrer Hand. An der Spitze jedes Blütenblattes leuchtete ein goldener Punkt. Ihr Pony stupste mit der Nase ungeduldig gegen Lauras Hand. "Nur noch ganz kurz", beschwichtigte sie es und schaute gebannt in den Himmel. Als die letzten Strahlen der Sonne hinter den bergen verschwanden, erschien über ihnen am Himmel ein strahlend heller Stern, der Silberstern. Ein Schauder durchfuhr Laura. Jetzt war es so weit! Vorsichtig zerrieb sie die Blütenblätter zwischen ihren Fingern, dabei flüsterte sie die geheimen Worte des Zauberspruchs: 

"Silberstern, Silberstern,
hoch am Himmel, bist so fern.
Funkelst hell und voller Macht,
brichst den Bann noch heute Nacht.
Lass dies Pony grau und klein,
endlich doch ein Einhorn sein."

Kaum hatte Laura das letzte Wort gesprochen, zuckte ein violetter Blitz auf. Eine Wolke aus magisch funkelnden Sternen umhüllte das kleine graue Pony. Als sich der glitzernde Nebel schließlich aufgelöst hatte, stand ein wunderschönes, schneeweißes Einhorn mit silbriger Mähne und einem kunstvoll gewundenen Horn vor ihr. "Sternenschweif!", flüsterte Laura überwältigt. "Hallo, Laura." Seine Lippen bewegten sich nicht, dennoch konnte Laura jedes seiner Worte klar und deutlich verstehen. Sie umarmte Sternenschweif ganz fest, dann schaute sie auf die violetten Blütenblätter, die sie immer noch in der Hand hielt. "Ich habe sie ja dieses Mal gar nicht auf den Boden fallen lassen", stellte Laura erstaunt fest. Sternenschweif schüttelte seine lange, silberne Mähne. "Das musst du nicht mehr. Die Blüten der Mondblume braucht man nur, wenn der Zauberspruch zum ersten Mal aufgesagt wird. Jetzt musst du nicht einmal mehr auf den Silberstern warten. Es reicht, wenn du die magischen Worte sprichst", erklärte Sternenschweif. Seine Hufe scharrten ungeduldig über das Gras. "Komm, Laura, lass uns endlich zusammen fliegen." Das brauchte er nicht zweimal sagen. Blitzschnell kletterte Laura auf seinen Rücken. Sternenschweif hatte eine Idee. "Lass uns zum Wald fliegen und gemeinsam über die Wipfel der Bäume springen", schlug er vor. Laura war sofort Feuer und Flamme. Denn sie musste keine Angst haben, herunterzufallen, da Sternenschweifs Magie das verhinderte. "Aber es darf nicht zu lang dauern, sonst wundert Mama und Paps sich noch, wo ich bleibe." Sternenschweif flog einen Bogen, genau auf den Wald zu, der die Berge bedeckte. Die benachbarten Bauernhöfe breiteten sich unter ihnen aus. Einer von ihnen zog Lauras Blick ganz besonders an: ein weißes, schiefergedecktes Haus mit rot gestrichenen Scheunen, das sich am Rand des Waldes an den Berg schmiegte. "Das ist der Gänsebach-Hof. Paps hat heute den Besitzer kennengelernt. Er heißt Herr Miller. Seine Tochter Melanie ist so alt wie ich und sie hat auch ein Pony. Paps hat ausgemacht, dass ich die beiden morgen besuche, und du darfst auch mitkommen!" "Au ja, prima!", erwiderte Sternenschweif. Plötzlich durchzuckte Laura ein Gedanke. "Was, wenn Mels Pony merkt, dass du ein Einhorn bist?" Sie wusste, dass niemand Sternenschweifs Geheimnis entdecken durfte. Eine geheimnisvolle Buchhändlerin namens Frau Fontana hatte ihr geholfen, den Zauberspruch zu finden, mit dem sich Sternenschweif in ein Einhorn verwandeln ließ. Laura hatte ihr versprechen müssen, Sternenschweifs Geheimnis gut zu hüten. Sonst könnte er in großer Gefahr geraten! "Es wird mich als Einhorn erkennen, aber das macht nichts", beruhigte Sternenschweif sie. "Schließlich kann es das niemandem verraten, oder?" Er flog tiefer, bis seine Hufe die Wipfel der Bäume streiften. "Wie sieht es aus? Bist du bereit für eine kleine Springrunde?" "Darauf kannst du wetten!", rief Laura begeistert. "Los geht's!" Übermütig galoppierte Sternenschweif durch die Luft und trug Laura zum Wipfel einer hohen Tanne. Sie sprangen von Baum zu Baum, und Laura war fast schon schwindelig, so viel Spaß machte das. Am Ende des Waldes angekommen, stieg Sternenschweif höher und schlug einen wunderschönen Salto. Laura konnte nicht anders, ausgelassen stieß sie einen lauten Freudenschrei aus. Viel zu schnell wurde es Zeit, nach Hause zurückzukehren. Nachdem Sternenschweif auf seiner Koppel gelandet war, glitt Laura von seinem Rücken und sagte einen zweiten Zauberspruch auf. Wieder durchzuckte ein violetter Blitz die Luft. Aber dieses Mal verwandelte sich Sternenschweif von einem Einhorn in ein kleines graues Pony zurück. "Unsere Springrunde war toll. Schlaf gut." Laura umarmte Sternenschweif noch rasch, bevor sie in Haus zurück rannte. Ihr Vater saß in der Küche. Er schaute auf die Uhr, als sie hereinkam. "Du warst aber ziemlich lang draußen." "Ich konnte mich einfach nicht von Sternenschweif trennen", antwortete Laura. Das stimmte ja auch! Trotzdem schlug Lauras Herz aufgeregt. Aber zu ihrer großen Erleichterung lächelte ihr Vater. "Es freut mich sehr, dass du mit deinem neuen Pony so glücklich bist. Findest du nicht auch, dass das Leben hier draußen viel besser ist als in der Stadt?", fragte er. "Total!" Laura stimmte ihm von ganzem Herzen zu. Zwar war ihre Familie erst vor Kurzem hierher aufs Land gezogen, damit ihr Vater seinen Traum von einem eigenen Bauernhof verwirklichen konnte, doch Laura fühlte sich schon ganz zu Hause. Auf dem Weg nach oben hörte Laura Gelächter aus dem Zimmer ihres Bruders. Neugierig stieß sie die Tür auf. Ihr kleine Bruder Max lag schon im Bett. Buddy, der junge Berner Sennenhund, den sie erst seit einigen Wochen hatten, stand auf den Hinterbeinen und stützte sich mit seinen großen, weißen Vorderpfoten auf dem Bett ab. Seine rosa Zunge hing heraus, während er versuchte, jeden Zentimeter von Max' Gesicht abzulecken. "Also wirklich, Max, ich glaube, er würde auch noch zu dir ins Bett klettern, wenn ich ihn nur ließe." Frau Foster zog den kleinen braunschwarzen Hund behutsam auf den Boden zurück. "Buddy, du bist wirklich unhöflich!", schimpfte sie lachend. Auch Laura musste bei diesem Anblick lachen. Doch sie war ganz schön müde und huschte nur schnell ins Bad, um ihre Zähne zu putzen, und kuschelte sich schon bald unter ihre gemütliche Decke. Hoffentlich würde sie sich morgen gut mit Mel verstehen.

Sternenschweif - Sprung in die NachtWhere stories live. Discover now